Wer hat da recht?

Friedjung Jüttner

Jeder ist seines Glückes Schmied: Diesen Satz haben wir schon oft gehört. Er ist uns sehr geläufig und will sagen, dass wir selbst für unser Glück, was auch immer das ist, verantwortlich sind; dass wir es in die eigene Hand nehmen müssen; dass wir uns nicht auf den Zufall oder die Hilfe anderer verlassen dürfen, um Erfolg und Zufriedenheit zu erlangen.

Ich musste einen Moment stutzen, als ich plötzlich im «Magazin» des «Tages-Anzeigers» (6. 7. 2024, S. 24) das Gegenteil zu lesen bekam. Da stand: «Niemand ist seines Glückes Schmied.»

Wer hat denn da recht? Mein ersterGedanke: Einer muss sich hier irren. Und ich wusste schon, wer. Aber so einfach ist es nicht. Mein zweiter Gedanke war dann: Es könnte sein, dass beide recht haben. Je nachdem, worauf man die Betonung legt, ob auf die eigene Verantwortung oder auf die Umstände.

«Weder die Tatsachen noch die Meinungen sind immer so eindeutig, wie wir meinen.»

Friedjung Jüttner, Dr. phil., Psychotherapeut

Und schliesslich kann man die Rechthaberei auch umkehren: Wenn beide nämlich meinen, recht zu haben, dann haben beide auch gleichzeitig nicht recht. Denn für jede der beiden Behauptungen ist immer auch etwas nicht richtig.

Worauf ich hinauswill, ist die Tatsache, dass etwas, was wir als selbstverständlich annehmen, nicht unbedingt von selbst zu verstehen ist. Weder die Tatsachen noch die Meinungen sind immer so eindeutig, wie wir meinen. Oder anders gesagt: Es ist eigentlich normal, dass es zu Missverständnissen kommt. Also: Kein Grund, sich darüber aufzuregen.