Vom fairen Streiten

Friedjung Jüttner

Jemand erzählte mir mal: «Meine Eltern hatten nie Streit. Und trotzdem haben sie sich getrennt.» Ich würde da nicht «trotzdem» sagen, sondern «deswegen».

Vermutlich hatte ein Elternteil immer nachgegeben und ist dann einfach mal ausgezogen. Oder anders gesagt: Faires Streiten gehört zu jeder lebendigen Beziehung. Aber, was ist faires Streiten?

Der Philosoph Karl Jasper hat sich darüber viele Gedanken gemacht. Er spricht nicht vom fairen Streiten, sondern vom «liebenden Kampf». Bei diesem Kampf geht es ihm, dem Philosophen, hauptsächlich um Wahrheit. Dafür stellt er eine Menge an Regeln auf, die bei diesem Kampf eingehalten werden sollten. Diese Regeln gelten natürlich auch für unsere Meinungsverschiedenheiten, mit denen wir uns im Alltag herumschlagen. Ich greife hier einige heraus, besonders die, welche mir persönlich wichtig sind.

1. Es geht nicht um Sieg oder Niederlage. Das heisst: Macht- und Überlegenheitsgelüste sind ausgeschlossen. Das setzt voraus, dass ich mich selbst auch infrage stellen lasse.

«Nur keine Angst, das faire Streiten zu üben. Es bleibt vermutlich immer eine Übung!»

Friedjung Jüttner, Dr. phil., Psychotherapeut

2. Damit hängt zusammen: Wir streiten um einen Sachverhalt. Es geht um eine Sache und nicht darum, meinem Gesprächspartner zu zeigen, dass ich recht habe. Und schon gar nicht darum, ihn fertigzumachen. Die Versuchung, es trotzdem zu tun, ist gross und muss bekämpft werden. Das ist nicht immer einfach.

3. Beim Streiten, diesem Prozess gemeinsamer Lösungssuche, sind die beiden Gesprächspartner gleichgestellt. Das heisst: Sie debattieren vom gleichen Niveau aus. Jeder erkennt den anderen als ebenbürtig oder gleichwertig an. Sie ringen gemeinsam um eine Sache.

4. Streiten ist schliesslich auch Anerkennung unserer Begrenztheit. Das in einem zweifachen Sinn. Einmal, weil es überhaupt zu dieser Auseinandersetzung kommt, und zum anderen, weil das Resultat nicht immer befriedigend ist und oft noch viele Fragen offen lässt.

Die Haltung, mit der die beiden Streiter ringen, der Respekt und die gegenseitige Anerkennung der Gleichwertigkeit hat doch viel mit Liebe zu tun. So wird aus möglichem Zank, aus Rechthaberei und Machtkampf doch ein «liebender Kampf» im Sinne Jaspers.

Nur keine Angst, das faire Streiten zu üben. Es bleibt vermutlich immer eine Übung!