«Unsere Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit»
Die Rede zum 1. August wird traditionell von der höchsten Opfikerin beziehungsweise vom höchsten Opfiker gehalten.In diesem Jahr stammte die Ansprache – hier im Wortlaut abgedruckt – von Jeremi Graf.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kinder
Schön, dass Sie so zahlreich erschienen sind, von jung bis alt. Als ich jung war, musste ich ganz vielen 1.-August-Reden zuhören von meinem Vater. Er war als Regierungsrat quasi Berufspolitiker und hielt fast jedes Jahr irgendwo eine 1.-August-Rede. Als Kind fand ich das jeweils nicht so spannend oder ehrlich gesagt: sogar ziemlich langweilig. Nie hätte ich gedacht, dass ich selbst einmal eingeladen werde und eine 1.-August-Rede halten darf.
Als das Amt des Gemeinderatspräsidenten für mich absehbar war, habe ich noch gar nicht daran gedacht, dass ich damit auch diese 1.-August-Rede halten darf. In Opfikon ist es ja traditionellerweise so, dass der Gemeinderatspräsident, also der Präsident des Parlamentes von Opfikon, diese Rede halten darf. Faktisch ist der Präsident oder die Präsidentin des Parlamentes ja höchster Opfikoner oder höchste Opfikonerin. Und in dieser Funktion hat man die Ehre, diese Rede zu halten. Das finde ich eine sehr schöne Tradition. Ich bin seit über zehn Jahren Mitglied des Parlamentes, und die Parteien wechseln sich ab mit dem Präsidium.
In diesem Jahr war meine Partei dran, und die Vergabe innerhalb einer Partei für so ein Amt richtet sich oft nach der Erfahrung und überhaupt nach dem Interesse an so einem Amt. Als Gemeinderatspräsident bereitet man in der Geschäftsleitung des Parlamentes die Sitzungen vor, und dann leitet man die Sitzungen des Parlamentes, was je nach Thema und damit je nach Emotionen nicht immer nur ganz einfach ist. Vielleicht hat es hier ja Menschen, die Anfang Juli an der Gemeinderatssitzung waren. Dann hatten wir das 50-Jahr-Jubiläum des Parlamentes gefeiert, und die Jubiläumssitzung war gespickt mit intensiven Diskussionen, Ordnungsanträgen und sogar einem Stichentscheid von mir. Wenn Ihnen mal langweilig ist an einem ersten Montag im Monat, dann schauen sie doch vorbei im Singsaal im Schulhaus Lättenwiesen: dort, wo die lokale Politik von Opfikon bestimmt wird, dort, wo die lokale Demokratie gelebt wird.
Aber jetzt zurück zur Tatsache, dass ich als Kind diese Reden jeweils ziemlich langweilig fand. Heute ist nämlich auch meine Tochter anwesend, sie ist fünf Jahre alt. Als ich sie fragt, ob sie Lust hätte, mich zu dieser Rede zu begleiten und mir auch zuzuhören, war sie nicht sonderlich begeistert. Sie fragte mich, weshalb ich denn eine Rede halten solle. «Es geht halt um den Geburtstag unserer Schweiz», habe ich ihr gesagt.» – «Aber wieso genau du, Papi? Kennst du die Schweiz gut oder besser als andere?» Ich glaube, ich kenne die Schweiz nicht besser als Sie, verehrte Damen und Herren, aber einen Geburtstag zu feiern, ist doch immer schön. Vor allem gemeinsam! Ich freue mich sehr, heute hier sein zu dürfen.
Wie feiert man nun einen Geburtstag eines Landes? Erst seit 1994 ist der 1. August ein nationaler Feiertag, vorher war es kantonal geregelt, in gewissen Kantonen war der Tag kein Feiertag. Die Bräuche sind lokal sehr unterschiedlich. Viele Menschen schmücken ihr Zuhause mit Schweizer, Kantons- und Gemeindefahnen. Die Beflaggung der öffentlichen Gebäude, Strassen und Plätze ist an den meisten Orten sogar gesetzlich vorgeschrieben. In den Gemeinden werden jeweils ihre eigenen Traditionen gepflegt. Gebete fürs Volk und fürs Vaterland gehören oft dazu, wie zum Beispiel der schöne ökumenische Gottesdienst heute Morgen hier. Dann natürlich das Singen der Nationalhymne, unseres Schweizerpsalms, und auch Glockenläuten der Kirchen gehören meistens dazu. An manchen Orten werden traditionelle Trachten getragen. Bei Einbruch der Dunkelheit beleuchten Kinder ihre Lampions, wie das heute Abend hier auch noch geschieht. Vielerorts werden private oder öffentliche Feuerwerke abgebrannt. Auf vielen Berggipfeln und Anhöhen brennen meterhohe Höhenfeuer. Und an den meisten Festen hat jemand die Ehre, eine Rede zu halten. Ich habe gestern gelesen, dass der Bundesrat Albert Rösti heute sieben Reden hält. Da bin ich froh, dass ich nur einmal reden muss, das reicht.
Also heute ist Feiertag für alle Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz, nicht nur für Schweizerinnen und Schweizer auf dem Papier. Gerade in Opfikon haben wir viele Bewohnerinnen und Bewohner, die keinen Schweizer Pass besitzen, aber die Schweiz trotzdem als ihre Heimat bezeichnen. Schön, dass wir dank diesem Feiertag alle zusammen diesen Geburtstag feiern können.
Was sind die häufigsten Themen der meisten 1.-August-Reden? Das habe ich mich in der Vorbereitung auf diese Rede gefragt. Meistens geht es um einen Blick zurück auf die Geschichte der Schweiz mit Bezug auf die Werte unserer Schweiz oder um den Heimatbegriff. Um den Bogen zu spannen zu den langweiligen 1.-August-Reden meiner Kindheit: Vielleicht ist es genau dieser Blick zurück, das kurze Eintauchen in die Geschichte der Schweiz, das für Kinder langweilig ist. Durch die kurze bisher erlebte Zeit eines Kindes sind der Begriff «Geschichte» oder Erzählungen von «früher» noch nicht sehr greifbar. So ging es mir jedenfalls. Als wir im Geschichtsunterricht in der Sekundarschule über den Ersten Weltkrieg gesprochen haben und ich mich zu Hause beschwert habe, dass ich das so langweilig gefunden hätte und das alles sowieso so lange her sei, hat mich mein Vater zu unserem Nachbarn geschickt, einem pensionierter Lehrer, der über 90 Jahre alt war. Dieser Nachbar freute sich natürlich riesig über mein Interesse, ich ging dann nämlich direkt zu ihm in die Stube. Und seine Erzählungen über den Ersten Weltkrieg waren viel persönlicher, menschlicher und für mich spannender als die Beschreibungen im Geschichtsbuch.
Ich kann mich noch gut an seine Beschreibungen der Angst erinnern, als er von der Generalmobilmachung erzählte und davon, als die Gerüchte von Angriffen aufkamen, mal sollten die Deutschen kurz vor einer Invasion sein, dann wieder die Franzosen. Auch die kalten Winter und der Verzicht auf Lohn waren für ihn prägend negativ. Eine Erwerbsersatzordnung gab es damals noch nicht. Auch schöne Momente gab es natürlich: die Kameradschaft, die Unterstützung der Bevölkerung und natürlich das Kriegsende. Als es dann um die Französische Revolution ging, hat mir mein Vater von einem noch aktiven Tennisspieler im Tennisclub erzählt, den ich auch kannte, der stolze 103 Jahr alt war. Mit ihm konnte ich zwar nicht über die Französische Revolution sprechen, aber 1995 minus diese 103 Jahre war das Jahr 1892, wenn man von dort nochmals 103 Jahre zurückgeht, ist man im Jahr 1789, dem Jahr der Französischen Revolution. So lernte ich, dass einiges, was so weit zurück scheint, gar nicht so lange her ist, je nach Vergleichsgrösse. So war ab dann die Französische Revolution nur zweimal das Leben vom Tennisspieler her, was mir dann nicht mehr so lange her schien.
Das finde ich allgemein ein spannendes Gedankenspiel. Ich wurde vor 10 Tagen 46 Jahre alt, wenn man diese 46 Jahre von meinem Geburtstag abzieht, als quasi mein Alter verdoppelt, dann bin ich im Jahre 1932. Damals wurden gerade die ersten Kühlschränke in Serie gefertigt, eine Flugreise war noch ein Abenteuer, Opfikon hatte 1268 Einwohnerinnen und Einwohner, und im Glattpark grasten natürlich noch die Kühe in einem Sumpfgebiet. Vielleicht hat es hier eine Zuhörerin oder einen Zuhörer, der genau 88 Jahre alt ist. Wenn man dieses Alter zweimal zurückgeht, dann ist man im Jahr 1848, damals wurde die moderne Schweiz gegründet. Auch nicht so lange, wenn man sich das so überlegt. Zweimal eine 88-jährige Frau oder ein 88-jähriger Mann und schon ist man im Jahr der Gründung der modernen Schweiz. Ein Jahr vorher fand mit dem Sonderbundskrieg der letzte Krieg auf Schweizer Boden statt: die liberalen reformierten gegen die konservativen katholischen Kantone. Etwa 130 Menschen liessen ihr Leben, damit war der Weg frei für unsere Verfassung. 176 Jahre ohne Krieg: keine Selbstverständlichkeit, gerade in einer Zeit mit gefühlt sehr vielen bewaffneten Konflikten auf dieser Welt.
Geschichte kann also so spannend sein. Am spannendsten, so finde ich, wenn man einen Bezug dazu hat. Einen zeitlichen Bezug oder ältere Personen, die in dieser Zeit lebten. Wie ist nun aber die Schweiz zu dem geworden, was sie heute ist?
Ich habe aus Neugierde ChatGPT, eine künstliche Intelligenz, gefragt, was denn die Schweiz international so erfolgreich gemacht hat beziehungsweise immer noch macht. Als Erstes wird die politische Stabilität erwähnt. Das klingt so simpel, ist aber ein unglaublich starkes Argument. In einem politisch stabilen Land wohnt man gerne, ein politisch stabiles Land ist sehr attraktiv für Unternehmen. Ein politisch stabiles Land ist attraktiv als Geschäftspartner für andere Länder – sie wissen, woran sie sind. Kurz: Ein politisch stabiles Land ist ein zuverlässiger Partner für alle. Was ist nun der Grund für die politische Stabilität der Schweiz? Das wollte ich wiederum von der künstlichen Intelligenz wissen. Dazu gehören die Grundstrukturen der Bundesverfassung von 1848, nämlich erstens: der Föderalismus. Der Föderalismus bezeichnet die Dezentralisierung der Verwaltung, man ist nah bei der Bürgerin, beim Bürger. Gesetzgeberische Kompetenzen besitzt nicht nur der Staat, auch die 26 Kantone und über 2000 Gemeinden haben diese Kompetenzen. Dann zweitens: die direktdemokratischen Elemente. Wir können und sollen mitbestimmen, welch ein Privileg. Drittens: unser politisches Milizsystem. Da sind wir wieder beim kleinen Parlament von Opfikon, einem Puzzlestein nur in unserer Demokratie, aber die Vielzahl dieser Puzzlesteine macht das ganze Bild aus.
In welchen Bereichen hat sich die Schweiz seit 1848 besonders verändert? Eine der grössten Errungenschaften der modernen Schweiz ist sicher unser soziales Sicherungssystem. Vorhin habe ich von meinem Nachbarn erzählt habe, der Aktivdienst im Ersten Weltkrieg geleistet und noch keinen Lohn dafür bekommen hat. Viele haben damals sogar ihren Job verloren, weil sie kriegsbedingt so lange abwesend waren. 1953 wurde genau dafür der Erwerbsersatz eingeführt, der mittlerweile nicht nur für die Armeeangehörigen gilt, sondern auch bei Mutterschaft oder der Betreuung von schwer beeinträchtigten Angehörigen bezahlt wird. Eine weitere grosse Errungenschaft der modernen Schweiz wurde kurz davor, nämlich 1948, eingeführt: Nach einem über 20 Jahre langen politischen Kampf war dies die AHV – heute nicht mehr wegzudenken aus unserem Sozialsystem. 1977 wurde dann die Arbeitslosenversicherung eingeführt. Auch unser Gesundheitssystem, also die obligatorische Grundversicherung, die Familienzulagen, das alles macht die Schweiz lebenswert und einzigartig. Tragen wir Sorge zu diesen Institutionen, sie sollen vernünftig sein, bezahlbar und nie den sozialen Aspekt verlieren!
Nicht nur die Schweiz hat sich entwickelt, auch Opfikon hat nicht mehr 1268 Einwohner wie 1932, sondern etwa 17-mal mehr. Im Glattpark grasen keine Kühe mehr, und eine Flugreise ist kein Abenteuer mehr, ausser vielleicht, wenn man Flugangst hat. Eine wahnsinnige Entwicklung, die noch nicht abgeschlossen ist. Die zentrale Lage, der Flughafen, ein riesiges Potenzial. Diese Entwicklungen können bestimmt auch Ängste erzeugen, aber seien wir optimistisch, die Schweiz hat sich zum Guten entwickelt. Und davon bin ich zutiefst überzeugt: Entwickeln wir die Schweiz weiter, auf dass sie noch lebenswerter wird!
Unsere Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Unsere Demokratie verändert sich ständig weiter, und diese Veränderung liegt in der Verantwortung von uns allen. Denn nur wer handelt, ist dem Wandel nicht ausgeliefert. Wer diskutiert, ist nicht ohnmächtig. Und ganz wichtig: Wer abstimmt und wählt, entscheidet über die Zukunft unserer Schweiz. In diesem Sinne fordere ich Sie auf: Machen Sie aktiv mit an diesem Projekt «Demokratie»! Es gibt viel zu tun, viel zu verbessern. Der Staat ist nichts Definitives. Seit 1291 sind wir daran, unser Gemeinwesen ständig zu reformieren.
Ich weiss, dass wir unser Solidaritätsgefühl an einem Feiertag wie dem 1. August besonders verspüren. Dies und unsere gemeinsame Kraft, etwas zu gestalten, wird uns helfen, die richtigen Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft zu finden. Das stimmt mich weiterhin sehr zuversichtlich.
Ich möchte mich ganz herzlich beim Organisationskomitee bedanken, das diesen Anlass geplant hat und durchführt. Bei Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, bedanke ich mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen wunderschönen Abend in diesem schönen Ambiente und weiterhin: Prost auf unsere Schweiz!