Mein Lieblingsschirm
In einer Ecke vor unserer Wohnungstür steht ein Glasgefäss, in dem seit Jahren drei Schirme darauf warten, gebraucht zu werden. Einer davon ist mein Lieblingsschirm, weil ich ihn für den stabilsten und auch den grössten halte. Überprüft habe ich das noch nicht, weil ich einfach überzeugt bin, dass es so ist.
Seit einigen Tagen ist dieser Schirm aber verschwunden. Ich weiss, dass ich ihn kürzlich mal mitgenommen habe. Nur weiss ich nicht mehr, wohin. Es hat nicht geregnet, als ich unterwegs war. Ich muss ihn also geschlossen irgendwo abgestellt haben. Aber wo?
Gedanklich bin ich schon mehrmals alle Möglichkeiten durchgegangen, wo ich den Schirm vergessen haben könnte. Auch mein Auto habe ich gründlich überprüft: nichts. Dabei ist mein Leben nicht mehr so bewegt, dass viele Orte in Frage kämen. An einige Situationen kann ich mich erinnern, aber alles solche, wo ein Schirm völlig überflüssig wäre, weil ich vom Parkplatz her auch bei strömendem Regen trockenen Fusses ans Ziel gekommen wäre. Beispielsweise im Glattzentrum.
Nach einiger Zeit habe ich aufgegeben und mich damit abgefunden, dass mein Schirm für immer verschwunden ist. Ich habe mir gesagt: Nimm’s nicht so ernst. Da stehen ja noch zwei andere in der Ecke, die es auch tun.
Dabei ist mir aufgefallen, dass ich gar nicht so sehr um den verlorenen Regenschirm trauere, vielmehr betrübt mich, dass ich nicht mehr weiss, wo ich ihn stehen gelassen habe. Ich schiebe solche mentalen Defizite dann gern auf die altersbedingte Vergesslichkeit ab. In der Regel hilft das auch und ich vergesse die Angelegenheit. Nur bei meinem Schirm gelingt das nicht. Denn jedes Mal, wenn ich die Wohnung verlasse, schauen zwei Schirme zu mir hoch und fragen ganz hinterhältig: Wo hast du den dritten gelassen?
«Da stehen ja noch zwei andere in der Ecke, die es auch tun.»
Friedjung Jüttner, Dr. phil., Psychotherapeut