Lügen haben kurze Beine

Mit der Warnung «Lügen haben kurze Beine» hat man uns früher einzuschüchtern versucht. Lügen lohne sich nicht. Die Wahrheit komme ganz schnell wieder ans Tageslicht.

Das mit den kurzen Beinen stimmt einfach nicht. Es gibt Lügen, die sich lange halten und erst nach Jahren aufgedeckt werden. Ein Beispiel, das mir spontan einfällt, ist die Geschichte der sogenannten Konstantinischen Schenkung. Dabei ging es um eine aus dem Jahr 800 stammende gefälschte Urkunde, die dem Papst Silvester I. (314 – 335) und seinen Nachfolgern die Oberherrschaft über Rom, Italien und die Westhälfte des Römischen Reiches überträgt. Es dauerte 600 Jahre, bis der deutsche Theologe Nikolaus von Kues diese Konstantinische Schenkung als Fälschung entlarvte. Das war eine Lüge mit langen Beinen.

«Heute kommt es mir so vor, als hätten viele Lügen überhaupt keine Beine.»

Friedjung Jüttner, Dr. phil., Psychotherapeut

Heute kommt es mir so vor, als hätten viele Lügen überhaupt keine Beine. Ich bringe wieder ein Beispiel. Unmittelbar vor dem Einmarsch der Russen in die Ukraine wurde im Fernsehen gezeigt, wie russische Panzer und andere Kriegsfahrzeuge an der ukrainischen Grenze in Stellung gebracht wurden. Allen war klar, was das bedeutete. Ein Journalist sprach den russischen Aussenminister Lawrow darauf an. Seine kurze Antwort war: «Davon weiss ich nichts.» Ich musste zuerst laut lachen, aber das verging mir sehr schnell. Was blieb, war Ärger. Eine plumpe Lüge, eine ohne Beine. Und die macht mich wütend, weil der Lügner sich nicht mal Mühe gibt, mir etwas vorzumachen. Entweder rechnet er, dass ich den Betrug nicht durchschaue, oder es ist ihm egal, was ich denke. Das empfinde ich als Entwertung.

Vielleicht haben Menschen, die in der Öffentlichkeit standen, auch früher schon viel gelogen. Aber heute kommen wir diesen Leuten – dank der sozialen Medien  – recht schnell auf die Schliche. Dass man Lügen auch als «alternative Fakten» bezeichnen kann, auf das kam, so meine ich, zuerst Donald Trump oder eine Mitarbeiterin von ihm. Und Herr Trump stellt, was seine alternativen Fakten anbelangt, den Sergej Lawrow weit in den Schatten.

Nun habe ich kürzlich den Satz gelesen: «Man kann nicht über Lügen reden, ohne selber zu lügen.» Da muss ich mich bei der eigenen Nase packen. Ich sehe mich ausserstande, die eigene Unschuld zu beweisen. Also lasse ich es sein.

Für Sie als Leserin oder Leser besteht die Möglichkeit, die Lektüre jetzt einfach abzubrechen. Dafür hätte ich volles Verständnis. Ich bemühe mich hingegen, dem Lügen noch einen positiven Aspekt abzugewinnen. Nach längerem Googeln bin ich auf folgenden Satz gestossen, der vermutlich auf Beziehungen abzielt, der aber auch auf Politiker angewendet werden kann: «Wenn man sich ständig fragen muss, wo man bei einer Person eigentlich steht, ist es an der Zeit, einfach weiterzugehen.»