«Lernt, was ihr können möchtet»

Roger Suter

Ananya Amitabh hat mit 16 Jahren eine Matura geschrieben, mit 19 einen Bachelor erhalten und arbeitet heute, mit 20 Jahren, an der ETH Zürich für ihren Master-Titel in «Quantum Engineering». Und sie macht jungen Frauen Mut, sich ihre Berufsträume zu verwirklichen.

«Jede ist ihres eigenen Glückes Schmied» lautet ein altes Sprichwort. Und wie so oft steckt darin mehr als ein Funken Wahrheit, wie Ananya Amitabhs aussergewöhnlicher Werdegang zeigt: Sie stammt aus Kerala, einem südwestlichen Bundesstaat Indiens, und kam im Alter von wenigen Monaten in die Schweiz. Ihr Vater hatte von seiner Arbeitgeberin CS das Angebot bekommen, hier zu tätig zu sein. Ananya Amitabhs Bildungskarriere beschleunigte sich schon früh: Den Kindergarten Halden besuchte sie nur ein Jahr; danach wechselte sie gleich in die erste Klasse ins Schulhaus Mettlen. Und nach der zweiten Klasse hat sie die dritte übersprungen  – in Absprache mit der Schule und der Schulpsychologin. Nach der 6.  Klasse besuchte sie das Gymnasium in Oerlikon, wo sie – zwei Jahre jünger als ihre Klassenkameradinnen und -kameraden – das beste Maturzeugnis ihres Jahrgangs erhielt.

«Das Alter spielte damals eigentlich keine Rolle», erinnert sie sich an diese Zeit zurück. Man sei ja zusammen aufgewachsen, und auch ihre Schwester ist drei Jahre älter. «Jetzt im Masterstudium spüre ich den Altersunterschied eher, denn es sind bis zu fünf oder sechs Jahre. Da merkt man, dass die anderen mehr Erfahrung in der Forschung haben.» Das empfindet Ananya aber nicht als Nachteil, sondern als Ansporn. Umgekehrt würden die Kollegen höchstens ungläubig nachfragen, ob sie wirklich erst 20 sei. Meist komme das Alter aber sowieso nur nebenbei oder später zur Sprache. Dabei habe das Jungsein einen grossen Vorteil: «So kann ich, wenn ich in einem oder zwei Jahren meinen Master habe, noch weitere Forschungsrichtungen erkunden oder Praktika in der Industrie absolvieren, bevor ich ein Doktorat beginne – zum Beispiel bei Start-ups, welche an Quantentechnologien arbeiten.»

Ihr Ansporn: Probleme lösen

Ananya Amitabh wusste immer ziemlich genau, was sie tun wollte: «Probleme lösen!» Ihre Eltern sind beide Software-Ingenieure, und das wollte auch die kleine, technikbegeisterte Ananya werden. «Im Gymnasium mochte ich es, Aufsätze zu schreiben, ich ging gern zum Geschichtsunterricht, und mir gefielen Mathematik und Physik», erinnert sie sich. Deshalb hat sie sich fürs mathematisch-naturwissenschaftliche Gymnasium entschieden. Als es auf die Maturität zuging, besuchte sie einen Studieninformationstag des Vereins «Limes», in dem sich die Studentinnen von Elektrotechnik und Informationstechnologie sowie Maschinenbau organisieren und gegenseitig unterstützen. «Ich fand Elektrotechnik mega cool und fing dort mit dem Bachelorstudium an.» An der ETH öffnete sich ihr wiederum ein breites Feld an Forschungsmöglichkeiten, dass ihr die Entscheidung nicht leicht fiel. «Man forscht wirklich am Horizont des Wissens. Es ist ein grosses Glück, diese Einrichtung vor der Haustür zu haben», findet Ananya. Sie begann sich auch für Biomedical Engineering zu interessieren, weil sie da wieder eine Möglichkeit sah, grosse Gesundheitsprobleme zu lösen, etwa Alzheimer oder andere, bisher nicht therapierbare Krankheiten. Ihre Bachelor-Arbeit handelt denn auch von «Targeted Drug-Delivery» mithilfe von Bio-Robotik: Sie ermöglicht, ein Medikament ganz gezielt im Körper zu platzieren und so etwa einen Hirntumor an Ort und Stelle zu bekämpfen.

 

«Oft ist der Weg zu dem, was man werden möchte, kürzer, als man glaubt.»

 

Aber auch die Quantenphysik, Pflichtfach im 3. Semester, weckte Ananyas Interesse. «Aber ich dachte auch: Wow, das ist mir nun doch zu kompliziert.» Dennoch besuchte sie im 5. Semester dann zusätzlich die Vorlesung zu «Qubits, Electrons, Photons»: etwas breiter und zugleich vertiefter, mit Beispielen aus der Praxis wie MRI, was Ananya Amitabh sehr zusagte. «Als ich dann Leute kennenlernte, die ihren Master in Quantum Engineering machen, hat der Funke gezündet.»

Dort studiere man nicht die Funktion der Quantenphysik, sondern entwickle daraus neue Anwendungen , umschreibt Ananya Amitabh ihr Forschungsgebiet. Ausserdem kann sie das neue mit ihrem bisherigen der Biomedizin verbinden. «Die Interdisziplinarität ist sicher kein Nachteil und eröffnet auch neue Forschungsrichtungen.»

Sehr spezielle «Computer»

Derzeit würden im Fachgebiet «Quantum Engineering» weltweit drei grosse Themenfelder beackert: «Quantum Computing», wo mit Quantentechnologie neuartige, superschnelle (und superempfindliche) Computer gebaut werden. Sie können gewisse komplexe  Aufgaben, wofür heutige Supercomputer Jahre brauchen, in Sekunden lösen. Das hat für Bereiche wie Pharma, Finanzen und Materialwissenschaften enorme Bedeutung. «Weil die Technologie so zukunftsweisend ist, aber die wissenschaftlichen Details sehr komplex sind, gibt es rund um Quantencomputer viel öffentlichen Hype und auch einige Missverständnisse», findet Ananya. «Diese Geräte sind technisch sehr aufwendig und äusserst  empfindlich. Wir werden wohl nie ein Quanten-Handy in der Hosentasche haben.» Ein Quantencomputer sei für komplexe Probleme gedacht und nicht mit einem herkömmlichen Rechner zu vergleichen (siehe Box). «Sie sind aktuell noch zu klein und fehleranfällig für viele praktische Anwendungen.» Deshalb müsse man das sehr genau erklären, um falsche Erwartungen zu vermeiden, ohne die echten Fortschritte zu schmälern.

Messen in ganz neuen Dimensionen

Das zweite Fachgebiet ist die Kommunikation mittels Quantenphysik, die komplett abhörsicher funktioniert. Und das dritte ist Ananyas Lieblingsgebiet, «Quantum Sensing». «Wir entwickeln mit Quantenobjekten neue Messmethoden, die um ein Vielfaches genauer sind als bisherige.» Denn eine besondere Eigenschaft von Quantensystemen ist, dass sie sehr empfindlich reagieren beim geringsten Kontakt mit der Umgebung. Während das für Quantencomputer ein Problem ist, weil die in ihnen gespeicherte Information sehr schnell verloren geht, ist das für Ananya Amitabh und Quantum Sensing aber von Vorteil: Die Veränderungen des Quantensystems messen nämlich die Umgebung mit noch nie dagewesener Präzision. «Es ist, wie wenn man die Dinge zum ersten Mal durch ein Mikroskop sieht.»

Zum Beispiel unser Gehirn – eigentlich eine riesige, komplexe, elektrische Schaltung. «Jedes Signal ist ein elektrischer Impuls, der wiederum ein winziges Magnetfeld erzeugt», führt Ananya aus. Mithilfe von Quantentechnologien könnte man diese Impulse mit hoher Präzision messen, was mit herkömmlichen Methoden nicht möglich ist. «Das würde uns helfen, die Aktivität im Gehirn besser zu verstehen. Ausserdem kann man mit diesen Quantenmessungen auch andere zellulären Vorgänge sichtbar machen, welche neue Möglichkeiten in der medizinischen und biologischen Forschung eröffnen.»

 

«Das Alter spielte damals eigentlich keine Rolle.»

Ein schon etwas älteres Beispiel sind Atomuhren, die heute in jedem GPS-Satelliten stecken. Das taktgebende Element darin – gewissermassen das Pendel – sind Atome bestimmter Elemente, die in ­einem elektromagnetischen Feld schwingen und deren Schwingungen gezählt werden. Das sind beim heute verwendeten Cäsium-Atom 9,19 Milliarden Schwingungen in der Sekunde; diese zu zählen, ist eine Anwendung der Quantenphysik . Aber auch unsere Photovoltaikanlagen auf den Dächern lassen sich mit Quantenmechanik erklären.

Ihr aktuelles   Forschungsprojekt dreht sich um elektrisch geladene Teilchen, Ionen genannt. Diese gleichsam «festzuhalten», um sie fürs Quantum Computing verwenden zu können, ist aufwendig  und oft sperrig. Ein Ansatz dafür, ein kompakteres und skalierbares System zu bauen, heisst «Integrated Photonics»:    Hier wird das Laserlicht, welches die Ionen steuert, direkt auf einem Chip geführt statt durch die freie Luft. Ananya arbeitet am Chip, der die Laser ausrichtet. Dabei hilft der vielseitigen jungen Forscherin ihr Elektrotechnik-Hintergrund.

Die Vorbilder fehlen

Ananya Amitabhs Forschungsgebiet ist nach wie vor eine Männerdomäne. Warum das so ist, darüber macht sie sich auch viele Gedanken: «Als Frau wird man nicht gerade gepusht, Mint-Fächer zu wählen», findet sie. In ihrer Gymiklasse waren es nur vier junge Frauen, die als Schwerpunkt Mathematik und Physik statt Biologie und Chemie wählten. Getreu dem Sprichwort «You can’t be what you can’t see» fehlten für Mathematik, Informatik, Natur- und Ingenieurwissenschaft sowie Technik (abgekürzt «Mint») oft die weiblichen Vorbilder. «Es ist vielleicht nicht nur eine gesellschaftliche, sondern auch eine innere Erwartungshaltung», weiss Ananya Amitabh aus eigener Erfahrung:  «Ich hatte überall gute Noten, aber trotz – oder vielleicht gerade wegen – meiner vielen Interessen redete ich mir oft fälschlicherweise ein, dass ich wohl nicht die Person für eine Karriere in Physik oder Ingenieurswissenschaften sei. Ich dachte mir, man müsste wie viele Jungs zum Beispiel an Elon Musks Raketentechnik interessiert sein, um diesem Profil zu entsprechen.» Viel wichtiger als diese – in ihrem Fall offensichtlich falsche  – Profilvorstellungen seien aber die vorhandenen Interessen: «Wer Probleme lösen will, sei es in der Raumfahrt, aber auch der Medizin oder dem Klimaschutz, ist in Mint genau richtig.»

Vielfach fehle es wohl nicht an der Kompetenz, sondern am Selbstvertrauen. Dass Ananya Amitabh dies aufbrachte, als Einzige Ingenieurwissenschaften zu studieren, habe auch mit ihren Eltern zu tun: «Sie haben nie daran gezweifelt, dass ich hier am richtigen Platz bin.» Auch habe ihr geholfen, jeweils in entscheidenden Momenten Studentinnen in ihren Interessengebieten zu treffen.

Deshalb engagiert sie sich im   Vorstand des bereits erwähnten Vereins ­«Limes», was für «Women*   (früher Ladys) in Mechanical and Electrical Engineering Studies» steht. Er organisiert monatliche Treffen, Schülerinnentage, Mentorings, Spaghetti-Plausch oder Besichtigungen der Labors und vernetzt so die Studentinnen untereinander – und mit interessierten Firmen.   Und die Förderung zeigt erste Erfolge: Der Frauenanteil in den technischen Fakultäten steigt. «Kürzlich kam eine neue Maschinenbau-Studentin zu mir, die an unserem Schülerinnentag war», freut sich Ananya Amitabh.

Sich selbst mehr zutrauen

Und welche Tipps gibt die erfolgreiche Wissenschafterin jungen Frauen? «Es kann helfen, die oft sehr kritische innere Stimme leiser werden zu lassen und sich selbst mehr zuzutrauen.» Vielleicht bereut man es sonst, es nicht ausprobiert zu haben. Sich inspirierende Vorbilder zu suchen und den Mut zu haben, sie anzusprechen, könne sehr wertvoll sein. «Dabei ist es wichtig, nicht nur zu überlegen, was man schon kann, sondern auch, was man gerne können möchte. Denn oft ist der Weg zu dem, was man werden möchte, kürzer, als man glaubt.»

Ananya Amitabh ist ihren Eltern dankbar, für sie und ihre Schwester in einem fremden Land dieses Umfeld aufgebaut zu haben. Diese «beste Schwester, die man haben kann» ist drei Jahre älter, hat Informatik studiert und arbeitet heute als Cyber-Security-Spezialistin in einem Beratungsunternehmen. Und alle zusammen wohnen sie gleich neben dem Schulhaus Mettlen und lachen viel zusammen. Wenn sie nicht gerade für ­Limes organisiert, Stoff lernt, Experimente im Labor macht, Qubits einfriert, Resultate auswertet oder mit ihren rund 30 Studienkollegen diskutiert, betreibt sie  zum Ausgleich Karatesport (sie trägt den Schwarzgürtel und unterrichtet Kinder und Jugendliche), spielt Gitarre und singt (für sich). «Es ist ein sehr gefüllter, aber auch ein erfüllender Alltag», findet sie.

 

Studienstiftung und Werner Siemens Fellowship

Um das Nachwuchsproblem der «Mint»-Fächer zu lösen, fördert die Schweizerische Studienstiftung herausragende Studierende dieser und anderer Fächer. Zusätzlich erhalten elf dieses Jahr Ausgezeichnete, darunter Ananya Amitabh, ein «Werner Siemens Fellowship» – 19800 Franken sowie die Möglichkeit, an Netzwerkanlässen des Werner-Siemens-Programms teilzunehmen. «Das Geld gibt mir die Möglichkeit, mich interdisziplinär weiterzubilden, meine Interessensgebiete an anderen Universitäten zu erforschen – was auch das Ziel der Studienstiftung ist», weiss die Ausnahmestudentin.  

Quantenmechanik für Laien

Die Quantenmechanik beschreibt die Mikrowelt auf der Ebene der Atome, wo offenbar völlig andere Regeln gelten als in der «klassischen» Physik. Hier können sich Teilchen wie Materie oder wie Wellen verhalten, also mehrere Zustände gleichzeitig einnehmen und sich über Entfernungen hinweg beeinflussen. Nur Wahrscheinlichkeiten sind vorhersagbar.  

Gwunderbrunnen

29.09.2025 - 14:00
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