Hat Geschichte einen Sinn?
Wenn ich an meinen Geschichtsunterricht denke, dann fing der bei den Griechen und den Römern an und endete kurz vor der Katastrophe des Dritten Reiches. Unser deutscher Geschichtslehrer hatte offenbar Angst, dieses heikle Thema aufzugreifen.
In meiner Erinnerung ging es in der Geschichtsstunde fast immer nur um Kriege und ein paar Hochzeiten, mit denen man Kriege zu vermeiden versuchte. Mein früheres Geschichtsverständnis bezog sich mehr oder weniger nur auf Machtpolitik. Und das mit ständigem Blick in die Vergangenheit.
Unser heutiges Geschichtsverständnis hat sich inzwischen verändert. War es früher nur Territorialgeschichte, so erleben wir heute Weltgeschichte. Und die ist im Moment katastrophal. Aber das können wir nur sagen, weil wir heute sofort erfahren, was irgendwo in der Welt passiert. Ob es früher viel besser war, lasse ich mal dahingestellt. Auf jeden Fall scheint es im Moment fast lächerlich zu sein, nach dem Sinn der Geschichte zu fragen, wenn man bedenkt, wie unsinnig sie sich im Moment darstellt. Der Philosoph Karl Jaspers tat das aber trotzdem, und zwar bereits vor mehr als 75 Jahren. Und die Zeiten damals, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, waren nicht viel besser. Der Sinn und das Endziel der Weltgeschichte ist für ihn nämlich «die Einheit der Menschheit». Damit verlegt er den Sinn auf die Zukunft, oder – was mir noch wichtiger scheint – er definiert ihn als Aufgabe für die Gegenwart. Das scheint mir doch bedenkenswert.
«Dass wir schneller von den Zwistigkeiten in der Welt erfahren, macht die Zeit nicht schlechter.»
Ich habe den Eindruck, dass die Menschheit – trotz vieler Rückschläge – nicht schlecht auf dieses Ziel hin unterwegs ist. Allein die Medien, die uns global verbinden, sind doch bereits ein Fortschritt in Richtung Einheit. Die Tatsache, dass wir schneller von den Zwistigkeiten unter den Völkern in der Welt erfahren, macht die Zeit nicht schlechter. Das gab es früher auch schon. Die Zeiten – so paradox das im Moment klingt – werden, trotz allem, für die Menschheit immer besser. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass heute weniger Menschen durch Gewalteinwirkung sterben als noch vor 200 Jahren. Die Kindersterblichkeit nimmt deutlich ab, ebenso der Analphabetismus. Die Menschheit ist gar nicht so schlecht unterwegs. Man muss ihr nur Zeit lassen. Das gilt auch für die Idee der Einheit.
Die Welt rückt auch geografisch immer mehr zusammen. Wir alle haben schon andere Länder und andere Kontinente besucht und sind den Menschen dort näher gekommen.
Wenn man die momentane politische Situation in Europa, Amerika oder der ganzen Welt betrachtet, könnte man denken, Jaspers hat sich getäuscht. Ich glaube aber, er hat recht. Wir müssen nur daran denken, was in den letzten 70 Jahren alles in Richtung «Einheit» passiert ist. Zwar sind wir noch weit weg von «der Einheit der Menschheit», aber wir sind auf dem Weg, trotz momentaner Rückschritte. Ich bleibe zuversichtlich, dass Geschichte doch einen Sinn hat.