Geist von gestern
Der viel gerühmte chinesische Philosoph Tschuang-Tse (350 – 275 v. Chr.) hat gesagt: «Man soll nicht den Geist von gestern benutzen, um die Ereignisse von heute zu verstehen.» Damit möchte er vermutlich andeuten, dass man nur mit dem Geist von heute die aktuellen Ereignisse verstehen kann. Ich bin mir aber nicht so sicher, was er wohl mit dem Wort Geist genau meint.
Es geht offenbar um Verständnis, um das Sehen von Zusammenhängen. Er hat sich sicher etwas dabei gedacht. Trotzdem habe ich gewisse Bedenken bei seinem Zitat.
Wenn Tschuang-Tse nämlich sagen will, dass wir uns weniger mit der Vergangenheit beschäftigen sollten als mit der Gegenwart – eine Meinung, die ich oft höre –, dann bin ich nicht ganz einverstanden. Denn gerade die Vergangenheit macht erst Ereignisse in unserem persönlichen Leben, aber auch in der Gesellschaft von heute verständlich. Und das kann überlebenswichtig sein.
Ich habe nämlich gerade ein Buch gelesen, das meine Ansicht teilt. Der Titel ist ganz einfach: «Mensch sein». Geschrieben haben es ein Evolutionsbiologe (Carel van Schaik) und ein Historiker (Kai Michel). Die beiden Autoren zeigen für mich sehr einleuchtend auf, wie unsere Vorfahren gelebt haben, als sie noch Jäger und Sammler waren, und welche Bedürfnisse von damals heute bei uns noch nachwirken. Eindrücklich aber sind die Fehlentwicklungen, die wir, der Homo sapiens, im Laufe der Jahrtausende eingeschlagen haben.
«Mit der Anhäufung von Eigentum, dem Reichtum, entstand notgedrungen auch Armut.»
Ich mache hier nur Andeutungen: Bei den Jägern und Sammlern war Eigentum von Land und Boden unbekannt. Aber mit der Anhäufung von Eigentum, dem Reichtum, entstand notgedrungen auch Armut. Denken Sie nur an die heutzutage viel zitierte Schere, die sich da auftut. Wir beklagen heute mit Recht die materielle Ungleichheit in der Welt. Für unser materialistisches Verständnis ist der Satz in diesem Buch «Teilen macht reich» Unsinn. Aber trotzdem finde ich ihn richtig, weil da ein wichtiger sozialer Gedanke deutlich wird.
Mit dem Eigentum und der materiellen Ungleichheit sind auch soziale Probleme entstanden. So ist beispielsweise die Chancengleichheit verloren gegangen.
Die beiden genannten Autoren belegen vielleicht doch den anfangs zitierten Satz von Tschuang-Tse, indem sie mit dem Geist von heute, also der modernen Evolutionsbiologie, zeigen, welche Fehlentwicklungen der Menschheit aus uralter Zeit uns heute Schwierigkeiten machen. Vor allem aber zeigen sie auch, was wir heute korrigieren könnten, damit wir beispielsweise wieder «materiell ärmer und dafür sozial reicher» werden könnten.