Einzug ins Sprayerparadies

Roger Suter

Diese Ostern werden nicht nur Eier bemalt: «Graffland», ein einzigartiger Treffpunkt für Graffitikunst, öffnet seine nagelneuen Tore. Zugegen sind Kunstschaffende aus aller Welt.

Die Idee schien so bestechend wie verrückt: Aus einem Teil der früheren Kläranlage Glatt sollte ein Ort werden, wo sich Graffitikünstlerinnen und -künstler und solche, die es werden möchten, legal betätigen können – und wo sich das Quartier trifft. Im Sommer 2023 hat der Verein Farben für Zürich hier Einzug gehalten.

Dahinter stehen Yassin Tair und Till Boller, die früher in Seebach einen Laden mit Farbsprays, den «Dosendealer», betrieben haben. Zusammen mit vielen ­Helferinnen und Helfern haben sie in Tausenden Stunden oft unbezahlter Arbeit die Vision verwirklicht: einen Ort mit vielen Wänden, der für immer neue Graffitis genutzt werden kann. Denn genau wie draussen ist auch hier drinnen das meiste nicht für die Ewigkeit gedacht.

750 Lastwagen dirigiert

Ein Problem stellten die rechteckigen früheren Klärbecken dar. Den ursprünglichen Plan, deren Wände ebenfalls als Sprayunterlage nutzen zu können, mussten die beiden beerdigen: Der Beton war nach 20 Jahren Leerstand zu instabil. Und weil die mehrere Meter tiefen Gräben auch eine Gefahr darstellten, entschied man sich fürs Auffüllen.

750 Lastwagen kippten vier Märzwochen lang Bauschutt und Recycling-Kies hinunter. «Es war ein ständiges Kommen und Gehen, und wir waren die Verkehrslotsen», erzählt Yassin Tair. Zuvor hatte er mehrere Baufirmen kontaktiert, die zuerst alle dieselbe Frage stellten: «Habt ihr da nicht eine Null zu viel?» Man erhält ja nicht alle Tage eine Anfrage für 10 000 Kubikmeter Füllmaterial. Dieses sollte zudem sauber sein, «wir arbeiten ja darauf», so Yassin Tair. So einigte man sich mit der Firma Kibag, dass sie ihr ungefährliches Abbruchmaterial aus Bassersdorf hier kostenlos entsorgen konnte und dafür keine Arbeit verrechnete. So ist aus den einsturzgefährdeten Klärgruben eine grosse, nutzbare Fläche geworden.

Darauf steht heute neben einer riesigen Menge Spraydosen ein älterer VW-Bus. «Er fährt nicht mehr, sondern lässt sich nur noch schieben und wäre verschrottet worden», erläutert Tair. Mehr muss er auch nicht, dient er hier doch ebenfalls als Unterlage fürs Sprayen. Gerade hat Teos die letzten bunten Striche aufs Blech gesprüht. «Ich mag es, Farben zu mischen», erzählt der Graffiti- und Schriftkünstler, der hier im Auftrag des Vereins auch Workshops veranstaltet.

Zweites Leben für Bauwagen

Wie der Bus kam vieles hierher, das andernorts ausgedient hatte: Das Bauernbuffet hinter dem Tresen des Cafés sollte bei einer Räumung möglichst schnell weg. Yassin und Till sagten zu – und mussten das grosse Möbel irgendwie von Zürich in den Glattpark schaffen. «Viel zu spät haben wir herausgefunden, wie man es mit wenigen Handgriffen demontieren kann», erzählt Yassin lachend. Inzwischen steht es sauber hergerichtet im Café, wo ab nächstem Donnerstag heisse und kalte Getränke, selbst gemachte Wähen und Glace, Opfiker Sirup und Most (und vielleicht auch Wein) serviert beziehungsweise ausgeschenkt werden. Zur Eröffnung gibt es einen zusätzlichen Foodtruck, Grilladen von Arnold in Glattbrugg und Churros aus Kloten.

Die Gleisbaufirma Müller hat dem Verein für 3000 Franken drei alte Bauwagen vermacht, welche nun zu Ateliers umgebaut werden – und einer zu einem Barbiersalon. Matthis Latscha kennt Yassin und den Verein schon lange, sie waren Nachbarn im Stierli-Areal in Seebach. Weil der «Haarmann» seinen Salon unweit der Zürcher Hardbrücke nicht weiterführen konnte, sagte er zu, hier in der ehemaligen Kläranlage seine Dienste anzubieten. Weitere energiesparend klimatisierte Container werden zwölf unterschiedlich grosse Ateliers beherbergen, von der Skateboard-Manufaktur über das Musikstudio bis zur Siebdruckwerkstatt (die an Ostern auch selbst mitgebrachte T‑Shirts bedruckt). Die Vermietung läuft.

In einem anderen Container ist der Shop untergebracht – der Ursprung der «Dosendealer»-Idee. Hier können sich die Kunstschaffenden anmelden, informieren und Nachschub besorgen – bei 650 Farbtönen passt einer bestimmt.

Neben einem Klärbecken liegt ein ganzer Stapel Bauholz, das übrig geblieben ist. «Da darf man sich selber bedienen, wenn man daheim etwas bauen möchte», sagt Yassin. «Wir haben ja auch vieles geschenkt bekommen.»

«Drinks, cans and walls»

Die frühere Gebläsehalle ist das Kernstück des grossen Geländes, die eigentliche Galerie, die auch für Events genutzt werden kann. Auch hier sind die Wände besprayt, werden aber in den nächsten Tagen weiss übermalt. So können sich am Eröffnungswochenende einige der rund 100 angemeldeten Kunstschaffenden aus aller Welt am «Graffiti-Jam» zu Musik und Live-DJs austoben – mit Pinsel und Rollen, wie Yassin betont: «So viele Spraydämpfe in einem Gebäude wären nicht gesund.» Draussen gibt es aber jede Menge weitere Wände. Zugegen sein wird etwa «Smash» aus Basel, die «Schwarzmaler» aus Bern, «Hoker One» aus Hamburg oder George Rose aus Australien. Ausserdem baut der Zürcher Künstler «Candroid» eine Installation von 6 mal 5 Metern auf.

Sprayer Yiannis aus Zypern jedenfalls ist schon sehr angetan: «Drinks, cans and walls», also Getränke, (Farb-)Dosen und Wände gebe es hier, so der Sprayer aus Zypern. «And toilets.»

19.–21. April, jeweils ab 10 Uhr, beim Spielraum ara Glatt, Zunstrasse; www.graffland.ch