Eine Kriminalgeschichte

Die vielen TV-Morde verblüffen selbst Krimi-Altmeisterin Agatha Christie.

Eine ältere Dame namens Agatha Christie erhält einen Polizeiruf 110 vom Zweiten Deutschen Fernsehen, genauer von dessen Chefin namens Katharina Böhm. Die Chefin bittet die alte Dame, ins Studio zu kommen, da sich bei der Aufnahme eines Soko-Krimis Schwierigkeiten eingestellt hätten. Um welche Soko es aber geht, wird ihr nicht verraten. Es könnte die Soko Leipzig, Potsdam, Hamburg, Köln oder München sein. Auf jeden Fall geht es um Mord in bester Gesellschaft.

Frau Christie fragt sich: Bin ich der letzte Bulle? Warum rufen die nicht jüngere Kolleginnen, wie Helen Dorn oder Maria Brand? Der alte Erik Ode wurde doch auch vom jüngeren Fritz Wepper abgelöst.

Im Studio des Senders angekommen, informiert sie die Chefin über das Projekt. Es geht um Mord mit Aussicht. Wobei noch nicht entschieden ist, ob man Stralsund, dem Kommissar und dem Meer oder dem Küstenrevier mit den Toten vom Bodensee Vorrang geben soll. Die vielen Vorschläge verwirren die erfahre Krimiautorin. Sie fragt sich: Warum wollen die jungen Leute von heute immer mehr und machen alles so schnell?

«Überhaupt wundert sich Frau Christie darüber, dass in letzter Zeit so viel gemordet wird – wenigstens im Fernsehen.»

Beim Biss in einen warmen Buttergipfel fragt sie sich zudem: Warum geben die nicht Kommissar Beck die Rolle? Wilsberg und Kommissar Dupin fallen ihr auch noch ein. An Ausländer wie Commissario Laurenti oder Brunetti denkt sie schon gar nicht. Auch ihrem Landsmann Inspektor Barnaby traut sie nicht so recht. Ebenso wenig hält sie etwas vom Kriminalisten oder vom Pfarrer Braun.

Hingegen hält sie grosse Stücke auf den Wiener Kollegen, der blind ermittelt. Der hat, so meint sie, immer gleich den grossen Durchblick.

Überhaupt wundert sich Frau Christie darüber, dass in letzter Zeit so viel gemordet wird – wenigstens im Fernsehen. Diese Hektik, denkt sie. Jeden Abend vier bis fünf Krimis auf den verschiedensten Kanälen. Meistens sind zwei Kommissare an der Arbeit, die einen verstehen sich, die anderen gar nicht, die wenigsten haben eine normale Familie, die meisten haben es aufgegeben, eine zu haben. Neben den vielen privaten Problemen rackern sie sich durch den Fall. Sie lösen ihn auch immer, das verlangt der Zuschauer. Die einen schaffen das in fünfzig Minuten. Beispielsweise die beiden von Lübeck, die sich auf Morde im Norden spezialisiert haben. Und weil sie so effizient sind, dürfen sie jeweils gleich nochmals ran. Dagegen brauchen die meisten Krimis, vor allem die «Tatorte», neunzig Minuten, um ihre Mörder zu überführen. Das erlaubt den Kommissaren, über Strecken hinweg unverschämt herumzutrödeln. Darüber schüttelt Agatha Christie verständlicherweise den Kopf. Ihr Hercule Poirot nahm zwar auch viel Zeit in Anspruch, beispielsweise eine ganze Schifffahrt auf dem Nil oder eine Reise im Orientexpress. Aber er machte seine Arbeit allein und mit unübertroffener Brillanz.

Wo der neue Krimi, zu dem sie gerufen wurde, spielen soll, ist noch unklar. Die Chefin bevorzugt etwas vage in Nord Nord. Andere finden Städte besser. Da bieten sich Lissabon, Zürich, Usedom und Barcelona an. Die Auswahl erweist sich als harter Brocken. Am Ende erhält Rosenheim den Zuschlag. Ob die Cops dort der Aufgabe gewachsen sind? Natürlich immer, sagt sich Frau Christie. Warum haben die mich überhaupt gerufen?

Und sie verschwindet – ohne dass jemand etwas merkt.