Der Pöstler, der trotzdem etwas «Rechtes» tat

Roger Suter

Über 48 Jahre lang hat Beat Altorfer in Opfikon und Glattbrugg Briefe und Pakete zugestellt. Dabei war er gleichzeitig Briefträger, Geldbote, Sozialarbeiter und Vertrauensperson. Seit einigen Wochen ist er pensioniert und blickt auf eine spannende, aber auch andere Zeit zurück.

Fast viereinhalb Jahrzehnte gehörte er beinahe zum Strassenbild in Opfikon: Beat Altorfer kennt als Pöstler jede Strasse und jedes Haus im Ort. Auch vielen Bewohnerinnen und Bewohnern ist der Ur-Opfiker bekannt, auch wegen seiner zwei ungewöhnlichen Hobbys.

Im Oktober 1958 in seinem heutigen Wohnhaus an der Oberen Wallisellerstrasse zur Welt gekommen, verbrachte er seine Kindheit und Schulzeit in Opfikon und wusste schon bald, dass er zur Post wollte. 1975 begann Beat Altorfer die damals einjährige Lehre als Zustellbeamter bei der Post und arbeitete bis im Dezember 1977 in Glattbrugg. Bis Januar 1979 ging es in der Zürcher Sihlpost – der Hauptpost der Stadt Zürich – weiter. «Damals gab es kein Paketzentrum in Mülligen oder Wallisellen», so Beat Altorfer. «Die Sihlpost hatte dafür einen eigenen Bahnhof, in den die Postzüge einfahren konnten.» Der Opfiker war im Umladdienst und bei den Sortieranlagen beschäftigt. Das tat er offenbar gut, denn etwas später beförderte man ihn zum Gruppenchef. Allerdings gestaltete es sich zunehmend schwierig, eine vier- oder fünfköpfige Gruppe anzuführen, wenn manche kaum Deutsch sprachen. «Da habe ich zu meinem Chef gesagt: Entweder ich kann hier etwas anderes machen oder ich kündige.» Die Personalnot war auch damals gross, und schon am nächsten Tag bekam Beat Altorfer eine Stelle in Kloten angeboten, wo er drei Tage später anfangen konnte.

Das war Ende Januar 1979 – er erinnert sich immer sehr genau an die Daten. Hier arbeitete er bis Mitte 1980, als er nach Glattbrugg zurückkehren konnte. «Hier habe ich meine Lehre gemacht, kenne die Gegebenheiten», begründet er seine Rückkehr. Zuerst war er Ablöser, sprang also auf allen Touren ein, wenn jemand in den Ferien war. «Damals hatten die meisten feste Touren», so der Pöstler, «das hat sich stark verändert.» Als er 24 war, wurde eine solche Tour frei. Während der nächsten 17 Jahre stellte Beat Altorfer dort Briefe, aber auch Pakete zu.

Die «Fabrik» gefiel ihm nicht

Im Juni 1999 wurde dann die Paketbasis in Bülach eröffnet und die Päckli von dort aus verteilt. Auch Beat Altorfer wechselte abermals seinen Arbeitsort – und fand sich in einer «Fabrik» wieder. «Sehr unpersönlich», findet er. «In Glattbrugg hatten wir ein Team von vier langjährigen Paketboten, die nach der Arbeit auch hin und wieder zusammengesessen oder etwas unternommen haben», erzählt Beat Altorfer. Als dann in Glattbrugg die Stelle eines Betriebsbeamten frei wurde, griff er zu und organisierte im Innendienst, betreute den Geschäftskundenschalter, arbeitete im Büro. «Mit der Automatisierung fiel aber viel Arbeit im Innendienst weg, und ich war wieder vermehrt auf Tour – worüber ich rückblickend sehr froh bin: Mir hat der Kundenkontakt schon gefehlt.» Und den bekam er wieder, sogar mehrfach: «Man musste froh sein, wenn man eine Woche dieselbe Tour machte», erläutert Beat Altorfer das neue Rochadesystem. «Manchmal waren es auch drei verschiedene.»

Erst gegen Ende seines Berufslebens fuhr er wieder eine einzelne, «seine» Tour. «Mein Vorgesetzter war nur ein Jahr jünger als ich, und er hatte Verständnis, dass ein bald 65-jähriger Rücken nicht mehr so viel tragen kann wie ein 30-jähriger.» Und so durfte Altorfer die schweren Pakete auch mal den jüngeren Kollegen überlassen. «Wir hatten einen guten Zusammenhalt, ein super Team», bilanziert Altorfer, «jeder ging für jeden.» Zusätzlich bildete er in den letzten zweieinhalb Jahren auch Lernende aus. «Das brachte eine ganz positive Auffrischung», findet Altorfer, «mit motivierten und interessierten Leuten von 16 bis 65.» Auch deshalb habe er das ganze Team zum Essen und Kegeln in den «Frohsinn» eingeladen.

Arbeit in privaten Regenhosen

«Als Paketbote ist man mit dem Auto unterwegs, aber als Briefträger mit dem Motorrad», beschreibt Altorfer die Arbeit draussen. «Aber wie sagt man so schön: Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte Kleider.» Gerade da haperte es vor allem zu Beginn seiner Postkarriere: «Regenhosen gab es keine – es sein denn, man besorgte sich privat welche.» Der Regenschutz war ein schwerer Plastikmantel, in den man winters immerhin ein Futter einknöpfen konnte, aber nicht zu vergleichen mit den heutigen bequemen und atmungsaktiven Funktionskleidern.

Auch die Fahrzeuge wurden mit der Zeit komfortabler: Zuerst gab es Fausthandschuhe, die fest am Motorradlenker montiert waren – mit eiskalten Fingern oder Handschuhen lässt es sich schlecht Briefe austragen. Heute sind die Griffe sogar heizbar, und die «Chnüüblete» mit klammen Fingern entfällt. Deshalb war Beat Altorfer in früheren Jahren auch dankbar, wenn ihm jemand an einem besonders kalten Morgen einen Kaffee drinnen anbot. «Etwas, das heute kaum mehr vorkommt.» Wohl auch deshalb, weil die Arbeitszeit inzwischen genau erfasst wird. Das bedeutet aber umgekehrt nicht, dass damals weniger gearbeitet wurde. «Je nach Wetter und Situation konnte ein Arbeitstag auch zehn oder elf Stunden dauern – und das war auch in Ordnung.»

«Regenhosen gab es keine – es sein denn, man besorgte sich privat welche.»

Beat Altorfer, Pensionierter Pöstler

Umgekehrt hat die Routine einer jahrelangen Tour auch Vorteile in Sachen Effizienz: «Wenn jemand nicht zu Hause war, kannte ich jemanden, der die Sendung entgegennahm, statt sie wieder mitzunehmen.» Eingesparte Umtriebe. «Im Industriequartier, das auch zu meiner Tour gehörte, wusste ich von jeder Firma genau, wo ich Pakete deponieren oder hinter welcher Bürotür ich Unterschriften holen konnte.» Auch die Kundinnen und Kunden schätzten den reibungslosen Ablauf und den Kontakt zu einem ständigen Ansprechpartner. Das drückte sich unter ­anderem vor Weihnachten aus: «Ich will ehrlich sein: Da habe ich manchmal fast einen 14. Monatslohn bekommen aus Trinkgeldern und allerlei Präsenten wie Wein, Kuchen, Salami und so weiter.»

Sozialarbeiter in Postgelb

Ein weniger bekannter Aspekt des Briefträgerdaseins ist der soziale: «Für viele, vor allem ältere Menschen war ich auch ein bisschen Sozialarbeiter», findet Beat Altorfer. Bis vor etwa 15 Jahren wurde zudem noch so manche AHV in bar vom Postboten ausbezahlt. «Bald wusste ich, wer lieber grosse und wer lieber kleinere Banknoten wollte», schmunzelt Altorfer. Bei manchen hat er den Stapel Einzahlungsscheine zusammengezählt, gleich wieder von der AHV abgezogen und am nächsten Tag die gestempelten Belege überreicht. Ehefrau Sandra Altorfer ergänzt: «An diesen Tagen wusste ich, dass er später nach Hause kommt. Mit der ­heutige Digitalisierung unvorstellbar.»

Hin und wieder hätten ihm Menschen ihr Herz ausgeschüttet. «Pöstler galten auch als Vertrauenspersonen», weiss Beat Altorfer, und Sandra ergänzt: «Dieses Vertrauen braucht es auch. Schliesslich weiss der Pöstler, wer von wem eingeschriebene Briefe bekommt.»

Arbeiten bei der Post hat Tradition

Die Post lag bei den Altorfers in der Familie: Beats Onkel Heinrich arbeitete ab seinem 15. Lebensjahr während 49 Jahren für den «gelben Riesen». «Er erzählte mir, dass er Ende der 1930er-Jahre eine einzige Woche Ferien hatte. Die Dienste dauerten gut und gerne von 5.30 bis 19 Uhr, und gearbeitet wurde auch am Samstag.» Das sei aber damals üblich gewesen und hätte niemanden gestört. Viel Geld für Ferien hatte man ja sowieso nicht. Beat Altorfer selber hatte dann vier Wochen Ferien in seinem Lehrjahr, danach noch drei, später wieder vier, fünf, ab 60 dann sogar sieben. «Die Post war ein sozialer und sicherer Arbeitgeber», bestätigt auch Sandra Altorfer.

«Ich wollte zwar schon damals zur Post, aber meine Eltern fanden, ich sollte zuerst etwas ‹Rechtes› lernen.»

Dabei hätte es auch anders kommen können: «Ich habe 1974 eine Maurerlehre angefangen», so der Bauernsohn aus dem Opfiker Dorf. «Ich wollte zwar schon nach der Schulzeit zur Post, aber meine Eltern fanden, ich sollte zuerst etwas ‹Rechtes› lernen.» Damals hätten bei der Post viele Studenten gearbeitet, die etwas Geld verdienen mussten – darunter auch spätere Opfiker Ärzte oder Verwaltungsräte örtlicher Unternehmen.

Auf der Baustelle aber war Beat Altorfer nicht glücklich. Er war sich vom elterlichen Hof körperliche Arbeit draussen gewohnt, aber mit dem manchmal ruppigen Umgangston auf dem Bau kam er nicht klar.

Weil die Post damals sehr viele Leute brauchte, fing etwa alle zwei Monate ein neues Lehrjahr an, und Beat Altorfer begann das seine Ende Januar 1975. Gearbeitet wurde täglich, und einmal die Woche reiste er um 18 Uhr nach Zürich und besuchte bis 22 Uhr die Schule. Die Abschlussprüfung (Note: 5,3) war kein Problem: Das Dorf kannte er seit seiner Kindheit auswendig, und auch das System der Postleitzahlen bereitete dem Zahlenmenschen keine Mühe.

Rollentausch, als die Kinder kamen

Die Lehre als Briefträger oder Zustellbeamter existiert nicht mehr. Neu sind es Logistikerinnen und Logistiker, die drei Jahre ausgebildet werden und danach auch in anderen Bereichen als der Post tätig sein können. «Aber meine Ausbildung in einem Monopolbetrieb war sonst nirgends nützlich», so Beat Altorfer. «Als die Kinder kamen, hast du ein halbes Jahr ausgesetzt und dir auch mal überlegt, etwas anderes zu machen», erinnert sich Sandra Altorfer, «und hast dich gefragt: Was mache ich mit dieser Lehre? Ich müsste eine ganz neue Ausbildung machen.» Einige von Beat Altorfers Kollegen wechselten, besorgten die interne Post in Gemeinden oder grossen Firmen. Bei ­Altorfers tauschten sie die Rollen, was in jener Generation – sie sind inzwischen Grosseltern – noch ziemlich selten war: Sandra übernahm nach der Geburt des ersten Kindes wieder eine Stelle als Kindergärtnerin, Beat besorgte den Haushalt – sehr zur Zufriedenheit aller. «Das war eine gute Erfahrung», meint er im Rückblick, «denn es ist gewaltig, was eine Hausfrau alles macht.» Er habe sogar im Turnus eine Spielgruppe geleitet – als einziger Vater weit und breit. «Und danach ging ich wieder total motiviert zur Post arbeiten.» Und Sandra Altorfer wirft ein: «Auch wenn er mal krank war, musste ich ihn beinahe ins Bett prügeln.»

Auch sonst habe er selten gefehlt, denn die Arbeit draussen härte ab. Als er sich einmal krankheitshalber abmeldete und beim Arzt ein entsprechendes Zeugnis holen wollte, fand sein damaliger Chef: «Wenn sogar der Altorfer selber sagt, dass er krank ist, dann brauche ich kein Zeugnis.»

Einmal aber kippte sein voll beladener Töff. Beat Altorfer wollte ihn stützen und verletzte sich dabei am Rücken. «Zum Glück hatte ich danach sowieso eine Woche Ferien.» Andere Verletzungen zog er sich stets beim Fussballspielen in jüngeren Jahren zu, so dass ihm ein Berater der Suva einmal riet, sich doch ein anderes Hobby zu suchen.

Koch, Sigrist und Brunnenputzer

Seit ein paar Wochen ist der dreifache Vater erwachsener Kinder nun pensioniert – aber die Gewöhnung daran dauert noch, nicht nur bei ihm: «Es kommt vor, dass ich eine Enkelhüte-Anfrage im ersten Reflex absage», so Sandra Altorfer, «und dann fällt mir ein: Beat ist ja daheim, wir können ja doch.» Dienstags und donnerstags, wenn alle anderen Hausbewohnerinnen ganztags arbeiten, kocht Beat für alle. Manchmal wird er auch von seinen Töchtern um Kochtipps gefragt. Um aber für alle Fälle gewappnet zu sein, wünscht er sich zu Weihnachten ein Kochbuch.

Wenn Sandras Wecker um 6 Uhr klingelt, ist auch Beat wach, denn sein innerer Wecker geht noch immer um 5 Uhr. Wenn sie vom Hundespaziergang zurückkommt, ist er meist beim Frühstück und der Zeitungslektüre – auf Papier, nach wie vor. Aber er geniesst es, wenn er mal abends einen Fussballmatch, der erst um 21 Uhr beginnt, anschauen kann. Auch die Hockey-Saisonkarte in Kloten kann er wieder öfters nutzen. «Das machst du nicht, wenn du um 5 wieder raus musst.»

Langweilig werde es ihm nicht, und das nicht nur wegen des Sports im Fernsehen und im Stadion. Nach wie vor ist Beat Altorfer zuständig für den städtischen Brunnen vor seinem Haus, den er seit Jahrzehnten regelmässig reinigt. Auch als Sigrist des «Chappeleturms» ist sein Wissen gefragt; er führt Interessierte die historischen Treppen zum Glockenstuhl hinauf und öffnet, wie es die Tradition will, jeweils an Silvester um 23.30 Uhr die schwere Tür. Und geht einmal die Uhr nicht richtig, ruft ihn sicher ein aufmerksamer Opfiker an.

Neuerdings gehört das Hüten der drei Enkelkinder im Vorschulalter zu den häufigeren Beschäftigungen. Auch im Garten hätte er noch zu tun, findet Beat Altorfer, aber das regnerische Herbst- und Winterwetter liess wenig zu. Aber er freut sich, nun mehr Zeit in diese Hobbys investieren zu können und Bekanntschaften mehr zu pflegen. «Es ist wichtig, das Leben auch etwas geniessen zu können.»