Das Stigma der Illegalität ablegen

Roger Suter

In der ehemaligen Gebläsehalle der Ara Glatt werden Graffiti als Kunst betrieben. Der Verein «Farben für Zürich» setzt sich aber auch für den Nachwuchs ein: Restedosen zum Ausprobieren oder auch mal ein spontaner Lehrgang für Kinder vom benachbarten Spielplatz.

Begonnen hat es in Seebach: Auf dem «Stierli-Areal» im Gleisdreieck zwischen Bahnhof Seebach und Thurgauerstrasse betrieb der Verein «Farben für Zürich» seit 2016 als Zwischennutzung einen Kunsttreffpunkt und verkaufte unter dem ­Namen «Dosendealer» auch Farben und Zubehör für «Street Art», wie der Überbegriff  für Kunst heisst, die eben «auf der Strasse» entsteht. Ende 2018 liess die ­Besitzerin den Vertrag mit dem Verein und seinen 900 Mitgliedern auslaufen. Geplant hatte die Stierli Real Estate dort das «Art Center Art 468» mit Galerie-, Event- und Ausstellungsräumen sowie einem Zollfreilager für wertvolle private Kunstschätze. Realisiert wurde es bislang nicht, das Areal aber zwischenzeitlich besetzt und geräumt.

«Wir waren die Einzigen, die für den Auszug eine Mulde bestellt und unsere Sachen korrekt entsorgt haben», erinnert sich Yassin Tair, damals schon Präsident des Vereins «Farben für Zürich». Auf der Suche nach einer Anschlusslösung mobilisierte der Verein, der damals schon 900 Mitglieder hatte, auch den Zürcher Gemeinderat, der im Mai 2018 ein entsprechendes Postulat an den Stadtrat überwies und im Oktober 2018 für dringlich erklärte. Die Antwort wurde aber erst am 13. September dieses Jahres im Parlament behandelt – und abgeschrieben, weil der Verein Ende 2022 das «Gebläsehaus» der ehemaligen Ara Glatt in Gebrauchsleihe übernommen hat.

Hier wartete etwas weniger Arbeit auf den Verein, der auf dem vernachlässigten Areal in Seebach jahrzehntelang unge­reinigte Toiletten instand gesetzt hatte. «Die Gebläsehalle ist gut ausgerüstet», schmunzelt Yassin Tair. «Von daher müssen wir Herrn Pauli dankbar sein.» Urs Pauli war von 2008 bis 2017 Direktor von Entsorgung und Recycling Zürich; er wurde für ungetreue Geschäftsführung seiner Abteilung verurteilt – unter anderem, weil in jener Gebläsehalle ein Old­timermuseum betreiben liess.

Kuratierte Sprayerkunst

Die aktuelle Nutzung hingegen ist legal: «Im Unterschied zu einer Roten Fabrik oder einen Letten-Areal in Zürich sind die Flächen hier bewirtschaftet», erklärt Yassin Tair. «Die Wände werden nach einer gewissen Zeit übermalt. Das wissen alle, die hier arbeiten. Dafür erhalten sie eine gewisse Wertschätzung, während andernorts halt manchmal einfach drüber- oder etwas druntergeschmiert wird.»

Hin und wieder ergibt sich für die Kunstschaffenden ein Auftrag: «Kürzlich konnte jemand nach einem Event ein fünfstöckiges Treppenhaus gestalten, nachdem der Gast eines Events hier seine Werke gesehen hatte», freut sich Yassin Tair, der in solchen Fällen auch gerne als Agentur fungiert.

Die Street-Art-Galerie ist aber nur eines der drei Standbeine: Wie erwähnt verkauft der «Dosendealer» Material für Graffiti-Kunstschaffende, neben Farben auch Schutzmasken, denn die Dämpfe sind ­ungesund. Und drittens vermietet der Verein die Halle samt kleiner Bar für Feste, Konzerte, Firmenanlässe, Workshops und andere Events.

Offen für den Nachwuchs

Zudem arbeitet man mit dem «Spielraum Ara Glatt» nebenan zusammen, der von März bis Oktober mittwochs, samstags und sonntags geöffnet ist. «Das grosse Tor steht jeweils offen, Kinder und Eltern kommen rein und sehen sich an, was hier passiert», erzählt Yassin Tair. «Einmal hat ein Mädchen gefragt, wie das gehe, und der Künstler hat mit ihm spontan ein Bild gesprayt.» Auch das Kürbisschnitzen fand wegen schlechten Wetters kurzfristig in der Gebläsehalle statt. Solche Kontakte sind durchaus gewollt: «Wir wollen der Graffiti-Kunst das Stigma der Illegalität nehmen», so Tair. «Denn viele verbinden damit etwa die Hausbesetzerszene. Hier ist alles legal und geordnet.»

Auch Anfängerinnen und Anfänger sind willkommen und können etwa mit Restedosen mal risikofrei experimentieren. «Eine volle Spraydose kostet rund 7 Franken», so Yassin Tair. «Das geht rasch ins Geld.»

Finanziert wird der bisherige Betrieb durch die Mieteinnahmen, den Materialverkauf und die (bescheidenen) Vereinsbeiträge. Die Stadt Zürich als Besitzerin der Ara Glatt wird die Kosten für die ­Sicherheitsmassnahmen übernehmen. «Wir hoffen, dass wir von anderen städtischen Institutionen und auch von der Stadt Opfikon einen Zustupf erhalten werden», sagt Yassin Tair. Ein Empfehlungsschreiben der Fachstelle Graffiti der Stadt Zürich von 2020 liegt dem Baugesuch schon mal bei. Die zusätzlichen Investitionen – Abbruch überflüssiger Verstrebungen, Erstellen des Zugangs via Glattpark und ­einer zusätzlichen Tür Richtung Klärbecken, Kauf von Occasionscontainern für Mietateliers – sollen ein Crowd­funding, die Mieteinnahmen aus Ateliers und Ver­mietungen sowie ein für November und Dezember geplantes temporäres Pop-up-Restaurant decken. «Schliesslich ist Kochen auch eine Kunst», findet Yassin Tair.