Zwischen Tradition und Moderne
Lange Zeit wurde Vietnam in Europa eher mit dem Vietnamkrieg, Kommunismus und Armut in Verbindung gebracht. Doch inzwischen hat sich das Land zu einer immer beliebter werdenden Reisedestination gemausert. Eine Reisereportage durch ein Land voller Gegensätze.
Die tropische Hitze schlägt mir entgegen, während sich ein endloser Strom ausMotorrädern und Autos durch die Strassen schiebt. Händler verkaufen auf Fahrrädern Bánh mì, Pho-Suppe und andere Spezialitäten, in kleinen Läden an jeder Ecke wird geschraubt, gekocht oder gefeilscht. In Ho-Chi-Minh-Stadt – die Einheimischen nennen die nördlich des Mekong-Deltas gelegene Metropole heute noch Saigon – herrscht ein Chaos, das eine ganz eigene Ordnung besitzt.
Ein Taxifahrer, ausgestattet mit einer Buddha-Statue über dem Tacho und einer Holzkette am Schaltknüppel, fährt mich zu einem Apartment im Zentrum der Stadt. «Erstes Mal in Vietnam?», fragt er, während er gekonnt durch die Blechlawine navigiert. «Das erste Mal seit zehn Jahren», sage ich, und er lacht: «Saigon ist gewachsen. Du wirst sehen, es ist hier immer etwas los.»
Angekommen in meiner Wohnung im 17. Stock wird klar, was er meint: Glänzende Wolkenkratzer, umgeben von Tausenden kleineren Wohnhäusern, erstrecken sich bis an den Horizont. Ho-Chi- Minh-Stadt ist das Wirtschaftszentrum des Landes und zählt heute rund neun Millionen Einwohner. Zum Klang hupender Motorräder und einer singenden Stimme aus einer Karaokebar verbringe ich meine erste Nacht in Vietnams Stadt, die niemals schläft.
Wo Nüsse 15 000 kosten
Das Leben in Ho-Chi-Minh-Stadt spielt sich auf den Strassen ab, vor allem in den Märkten. Zu Besuch im Binh-Tay-Markt in Cholon, dem chinesischen Viertel der Stadt: Obst, Gemüse, Kleidung oder Haushaltswaren – hier gibt es nahezu alles. Die Markthallen sind eng, der Geruch von Gewürzen liegt in der Luft. «Guten Tag, möchten Sie etwas kaufen?», rufen Verkäufer potenziellen Kunden zu und preisen ihre Ware an.
«Vietnam liebt seine Märkte», erklärt mir ein Händler, während er mir getrocknete Mangostücke in die Hand drückt. «Hier kaufst du ein, isst, triffst Leute. Die Märkte sind das Herz der Stadt.» Die Mangostücke schmecken süss. Ich bin überzeugt und kaufe eine Packung. 200 Gramm für 15 000 Dong, umgerechnet etwa 50 Rappen.
Davon allein werde ich aber nicht satt. Ein Abstecher zum Ben Nghé Street Food Market: Wer sich über die vietnamesische Küche einen Überblick verschaffen will, fängt hier an. Lust auf Klassiker wie die Pho-Suppe? Diese kulinarische Spezialität gibt es gleich in Dutzenden Variationen. Sie wird traditionell mit Rindfleisch, Reisnudeln, frischen Kräutern und Frühlingszwiebeln gegessen. Oder soll es doch etwas exotischer sein? Dann gibt es frittierten Hühnerfuss oder grillierten Fischkopf. Diese kleinen Imbisse, direkt nebeneinander in einer Halle versammelt, sind nicht nur bei Touristen beliebt, sondern auch die Lokalbevölkerung verpflegt sich dort. Zeit, nebst dem urbanen Grossstadtgewusel eine andere Seite Vietnams kennenzulernen: Eine Flugstunde nördlich von Ho-Chi-Min-Stadt liegt Đà Nang. Hier, wo einst amerikanische Soldaten während des Vietnamkriegs stationiert waren, sonnen sich heute Menschen aus aller Welt. Lange Sandstrände, Bars und Hotels prägen das Stadtbild.
Ein Stück Schweiz in Vietnam
Die Zielgruppe seien ausländische Touristen, wie mir ein Taxifahrer erklärt: «Wenn du willst, kann ich dir zeigen, wo wir Vietnamesen hier Ferien machen.» Denn nur wenige Kilometer von Đà Nang entfernt, gibt es einige unbekannte Sehenswürdigkeiten. Ich willige ein, und der Fahrer bringt mich zu den Bà Nà Hills – eine Attraktion speziell für Inlandstouristen. Am Fuss des Hügels steige ich auf die Seilbahn um. Dichter Dschungel, so weit das Auge reicht, und Nebelschwaden, die allmählich die Sicht einschränken, lassen die 20-minütige Fahrt wie im Flug vergehen. Per Zufall teile ich die Kabine mit einem Reiseführer und seiner Gruppe. Er liefert Hintergründe zur Infrastruktur. Die Überraschung: Hier steckt ein Stück Swissness drin. «Die Seilbahn wurde 2009 von Schweizer Ingenieuren gebaut», erzählt der Reiseführer. Oben angekommen, auf 1400 Meter über dem Meer, stehe ich auf der «goldenen Brücke», die von riesigen steinernen Händen getragen wird. Ein Touristenmagnet. Schulter an Schulter überqueren Hunderte Menschen die Brücke, posieren für Selfies oder geniessen einfach die fantastische Aussicht.
Zwischen Tradition und Kommerz
Nächster Halt: Hôi An. Auf dem Weg dorthin ziehen endlose Reisfelder vorbei, bis die ersten Gebäude wieder sichtbar werden. Das Stadtbild ist malerisch: Bunte Lampions hängen über den engen Gassen und alte Häuser erinnern an vergangene Zeiten. Doch die traditionelle, geschichtsträchtige Kulisse ist längst ein touristisches Geschäft geworden – Souvenirstände halten vermehrt Einzug. «Früher kamen nur wenige Leute, vor allem Vietnamesen. Heute kommen sie aus aller Welt», erzählt mir eine Gemüsehändlerin, die am Strassenrand ihre Waren verkauft. Dennoch wirkt Hoi An authentisch. Ich schlendere durch die Strassen, ohne dass Autos und Motorräder in die Quere kommen. Die ganze Altstadt ist eine Fussgängerzone. Zwischen all den Souvenirshops finden sich aber auch verborgene Perlen. Ateliers und Schneidereien verkaufen auch heute noch ihre handgemachten Waren.
Entspannen in Lăng Cô
Der letzte Tag ist angebrochen. Ich bitte einen Taxifahrer, mir zu zeigen, was die meisten Touristen übersehen. Und der ist um eine Antwort nicht verlegen: «Dann machen wir eine Tour auf dem Hai-Van- Pass. Nur wenige Touristen nehmen sich Zeit dafür.» Eine kurvenreiche Passstrasse, umgeben von dichtem Dschungel, bringt mich an den Rand Đà Nangs. Die Aussicht: eine Meeresbucht in sattem Blau wie aus einem Reiseprospekt.
Mein Taxifahrer bewahrt das Beste aber bis zum Schluss auf. «Ich zeig dir jetzt Lăng Cô», sagt er. «Dort ist es noch ruhig.» Auf der anderen Seite des Hai-Van- Passes komme ich in einem 40 000-Seelen-Städtchen an. Kein Gehupe, keine Menschenmengen – als würde die Zeit stillstehen. In einem Süsswassersee werden Perlen gezüchtet. Die angedockten Schiffe und Kutter haben ihre besten Tage hinter sich.
Weiter in Richtung Küste zeigt sich dasselbe Bild. Ein fast menschenleerer Strand, Liegestühle und ein paar Restaurants, die fangfrischen Fisch servieren – viel mehr gibt es nicht. Ich lege mich hin. Zum Klang des rauschenden Meeres verbringe ich meinen letzten Tag in Vietnams Stadt, die noch niemand kennt