Wer entscheidet künftig über Tempo 30?
Am 30. November stimmt Zürich über vier kantonale Vorlagen ab. Die Abstimmungsunterlagen liegen in diesen Tagen in den Briefkästen. Im Fokus steht die Revision des Strassengesetzes mit der Frage, wer künftig über das Tempo auf Hauptstrassen entscheidet. Auch das Vorkaufsrecht für Gemeinden, höhere Prämienverbilligungen und digitale Rechte kommen an die Urne.
Mit der Revision des Strassengesetzes entscheidet das Zürcher Stimmvolk über eine zentrale Frage der Verkehrspolitik: Sollen künftig die Stadt oder der Kanton über die zulässige Geschwindigkeit auf den Hauptstrassen bestimmen? Die Vorlage, die aus der sogenannten Mobilitätsinitiative hervorgegangen ist, sorgt seit Monaten für heftige politische Debatten. Lanciert wurde sie von SVP und FDP – mit dem Ziel, die Zuständigkeit für Hauptstrassen vollständig beim Kanton anzusiedeln. Der Kantonsrat nahm die Initiative mit knappem Mehr von 88 zu 87 Stimmen an.
Städte befürchten Machtverlust
Konkret sieht die Gesetzesänderung vor, dass ausschliesslich der Kanton Zürich für die Signalisation der Höchstgeschwindigkeit auf Staatsstrassen und Strassen mit überkommunaler Bedeutung zuständig ist. Bisher können die Städte Zürich und Winterthur dort eigenständig Tempo 30 anordnen – etwa aus Gründen der Sicherheit oder des Lärmschutzes. Dagegen haben beide Städte sowie eine Minderheit des Kantonsrats das Referendum ergriffen. Ein Beispiel für den Streit ist die Rosengartenstrasse in Zürich, wo die Stadt Tempo 30 einführen will, der Kanton jedoch interveniert hat. Ebenso umstritten ist die Seestrasse in Wollishofen, wo die Stadt eine Temporeduktion plant. Bisher konnten Zürich und Winterthur über Tempolimits auf ihren Hauptachsen selbst bestimmen, solange keine Nachbargemeinden betroffen waren. In allen anderen 158 Zürcher Gemeinden liegt diese Kompetenz bereits beim Kanton. Neu soll der Kanton sie nun auch in den beiden Städten übernehmen.
Befürworterinnen und Befürworter der Änderung im Strassengesetz – allen voran Regierungsrat und bürgerliche Parteien – argumentieren, ein einheitlicher Vollzug verhindere einen Flickenteppich an Regelungen. Unterschiedliche Tempolimiten führten zu Unsicherheit und verlängerten Fahrzeiten, was sich negativ auf den öffentlichen Verkehr und auf Blaulichtorganisationen auswirke. Zudem sei ein leistungsfähiges Strassennetz für den Kanton als Wirtschaftsstandort entscheidend.
Die Gegnerinnen und Gegner – vor allem aus SP, Grünen, GLP, AL sowie den Städten Zürich und Winterthur – sprechen dagegen von einem Eingriff in die Gemeindeautonomie. Temporeduktionen seien ein wirksames Mittel für mehr Verkehrssicherheit und weniger Lärm. Besonders in Wohnquartieren, bei Schulen oder Altersheimen brauche es Spielraum für lokale Lösungen. Das geplante Gesetz erschwere dies massiv und führe zu mehr Bürokratie statt zu Klarheit, so die Argumente der Gegner.
Vorkaufsrecht für Gemeinden?
Ebenfalls kontrovers diskutiert wird die Volksinitiative «Mehr bezahlbare Wohnungen im Kanton Zürich». Sie will den Gemeinden ein Vorkaufsrecht für Grundstücke geben, um mehr gemeinnützigen und preisgünstigen Wohnraum zu schaffen. Wenn ein Grundstück verkauft wird, könnten Gemeinden zu denselben Konditionen selbst Käuferinnen werden. Unterstützt wird die Initiative von SP, Grünen, AL, EVP und Teilen der GLP. Das Instrument soll verhindern, dass Boden zunehmend in die Hände renditeorientierter Immobilienfirmen gerät.
Bürgerliche Parteien wie FDP, SVP, Mitte und EDU sowie der Regierungsrat lehnen die Initiative ab. Sie befürchten einen Eingriff in Eigentumsrechte und Vertragsfreiheit. Ein Vorkaufsrecht, so die Kritik, garantiere keineswegs mehr günstigen Wohnraum, sondern schrecke private Investoren ab und gefährde die Planungssicherheit.
Als Alternative hat der Kantonsrat einen Gegenvorschlag verabschiedet: Die Mittel der kantonalen Wohnbauförderung sollen von 180 auf 360 Millionen Franken verdoppelt werden. Damit könnten Genossenschaften und gemeinnützige Bauträger zinslose Darlehen erhalten. Das Initiativkomitee hält den Gegenvorschlag jedoch für unzureichend – ohne Zugang zu Land nütze zusätzliches Geld wenig. Über beide Vorlagen wird gleichzeitig abgestimmt: Bei einem doppelten Ja entscheidet der Stichentscheid.
Prämienverbilligungen im Fokus
Die dritte Vorlage betrifft das Einführungsgesetz zum Krankenversicherungsgesetz. Der Kanton Zürich soll künftig gleich hohe Beiträge wie der Bund für die individuelle Prämienverbilligung zahlen. Das würde den Kanton jährlich rund 50 bis 60 Millionen Franken kosten. Befürworterinnen sehen darin eine dringend nötige Entlastung für Haushalte mit tiefen und mittleren Einkommen. Gegnerinnen kritisieren, die Vorlage bekämpfe nur die Symptome der steigenden Gesundheitskosten und nicht deren Ursachen.
Digitalisierung als Grundrecht
Schliesslich stimmen die Zürcherinnen und Zürcher über die Initiative «Für ein Grundrecht auf digitale Integrität» und den Gegenvorschlag des Kantonsrats ab. Die Initiative will ein neues Grundrecht schaffen, das Schutz vor Überwachung, Datenmissbrauch und algorithmischen Entscheidungen garantiert. Zudem sollen staatliche Leistungen weiterhin auch analog zugänglich bleiben. Der Gegenvorschlag verfolgt ähnliche Ziele, formuliert sie aber weniger weitgehend. Die Mehrheit des Kantonsrats unterstützt ihn, während die Initiantinnen und Initianten kritisieren, zentrale Schutzrechte seien abgeschwächt worden.
Diese beiden nationalen Vorlagen stehen im Fokus
National stehen im November zwei Vorlagen im Mittelpunkt: die Service-Citoyen-Initiative und die Erbschaftssteuer-Initiative der Jungsozialisten. Die Service-Citoyen-Initiative will die bisherige Wehrpflicht für Männer in eine allgemeine Dienstpflicht umwandeln. Künftig sollen alle Schweizerinnen und Schweizer einen Beitrag an die Gesellschaft leisten, sei es in der Armee, im Zivilschutz oder in zivilen Bereichen wie Umwelt, Bildung und Gesundheit. Damit soll das Milizsystem gestärkt und der Zusammenhalt in der Bevölkerung gefördert werden.
Die zweite Vorlage, die Erbschaftssteuer-Initiative, verlangt eine Abgabe von 50 Prozent auf Erbschaften über 50 Millionen Franken. Die Einnahmen wären für den Klimaschutz bestimmt. Laut einer SRF-Umfrage vom Oktober halten sich beim Service Citoyen die Ja- und Nein-Seite in etwa die Waage, während die Erbschaftssteuer-Initiative klar im Gegenwind steht. Bundesrat und Parlament empfehlen beide Vorlagen zur Ablehnung.