Auf den Spuren der Samurai
Tokio, Kyoto oder Osaka – das Land der aufgehenden Sonne ist ein beliebtes Reiseziel. Doch wer abseits der überfüllten Touristenpfadeunterwegs sein will, findet in Kanazawa ein authentisches Stück Japan.
Hunderte Menschen strömen wie Ameisen über die Strasse. Für dreissig Sekunden zeigt das Lichtsignal grün, und die berühmte Shibuya-Kreuzung in Tokio füllt sich. Die Kreuzung ist Sinnbild für die Reizüberflutung der japanischen Hauptstadt – ein pulsierendes Chaos aus Neonlichtern und permanenter Bewegung.
Doch Japan besteht nicht nur aus Grossstadt-Dschungel. Rund 500 Kilometer nordwestlich von Tokio liegt Kanazawa, auch bekannt als «Little Kyoto». Die Grossstadt mit 450 000 Einwohnern verspricht ein ruhiges und traditionelles Japan.
Dorthin gelange ich am einfachsten mit dem Shinkansen, Japans Schnellzug. Doch bereits beim Kauf des Zugbilletts treffe ich auf die Herausforderung, die mich während meiner ganzen Reise begleitet: die Sprachbarriere.
«No English, sorry», erklärt sich der Mann am Schalter. Ich zeige auf meinem Telefon Datum und Destination. Er nickt freundlich und drückt mir nach wenigen Minuten ein Zugbillett in die Hand. «Arigato Gozaimasu» – zu deutsch «Danke», bringe ich noch knapp aus mir heraus. Eine von zwei Alltagsfloskeln, die ich mir merken konnte.
Zwischen Mauern und Gärten
Angekommen in Kanazawa scheint zunächst nichts auf das klassisch Traditionelle hinzuweisen. Wonach ich suche, ist hinter den eckigen Betongebäude und breiten Strassen versteckt und von den meisten Hotels aus in Gehdistanz erreichbar.
Erster Kontrast bei der Burg Kanazawa. Weisse, hohe Mauern umgeben mich, während ich durch die erhaltenen Überreste der Festung laufe. Sie wurde im 16. Jahrhundert erbaut und liefert einen authentischen Einblick ins feudale Japan.
Direkt nebenan liegt der Kenrokuen-Garten, einer der drei schönsten Landschaftsgärten Japans. Der Name bedeutet «Garten der sechs Erhabenheiten» und bezieht sich auf Landschaftsattribute wie Weitläufigkeit, Wasserreichtum und Aussicht. Angelegt wurde er über einen Zeitraum von fast 200 Jahren.
Curry in einem Familienbetrieb
Ich schlendere über enge Pfade, kleine Brücken und zwischen kunstvoll beschnittenen Kiefern hindurch. Das Wasser in den Teichen plätschert, Koi-Karpfen ziehen ihre Kreise – es ist pure Idylle. Vom Sightseeing knurrt mir der Magen. Zurück Richtung Stadt entdecke ich in einer Seitenstrasse einen kleinen Curry-Laden. Ich ziehe den Kopf ein beim Eintreten, so niedrig ist die Türe. Ein junger Mann drückt mir eine Speisekarte in die Hand. Und wieder ist sie da, die Sprachbarriere. Doch ich habe Glück. Die Karte ist bebildert. «Kore o kudasai», «das hier bitte», stammle ich meine zweite Alltagsfloskel vor mich hin.
Mit Hand, Fuss und Google-Übersetzer verständigen wir uns. Begeistert erzählt er, dass er mit seiner Mutter einen Familienbetrieb führt. In der Zwischenzeit kommt sie aus der Küche mit einem Teller Reis in für Japan typisch rahmiger Curry-sauce. Bis auf das letzte Reiskorn esse ich den Teller leer. Nicht nur weil er schmeckt, sondern weil es zu den kulturellen Gepflogenheiten gehört, möglichst keine Reste übrig zu lassen.
Wo Geishas und Samurai lebten
Warum wird Kanazawa «Little Kyoto» genannt? Im Higashi Chaya District, dem Geisha-Viertel der Stadt, finde ich es heraus. «Chaya» bedeutet Teehaus, und hier unterhielten einst Geishas die wohlhabende Elite bei Teezeremonien, Musik und Tanz. Die schmalen Gassen sind umgeben von zweigeschossigen Holzhäusern. In einigen der ehemaligen Teehäuser kann man noch heute traditionelle Aufführungen erleben.
Doch die wahre Magie kommt am Abend auf, wenn alle Läden schliessen. Es wird ruhig. Nur vereinzelte Spaziergänger ziehen durch die Gassen. Die Laternen leuchten warm, und im Hintergrund singt ein Chor von Zikaden. Die Holzhäuser werfen lange Schatten auf das Kopfsteinpflaster. Ein Bild, das Kult-Regisseur Akira Kurosawa nicht schöner hätte inszenieren können.
Genauso traditionell geht es im Nagamachi Samurai District weiter. Dort stehen noch zahlreiche Häuser, in denen einst die edlen Krieger lebten. Die hohen Lehmwände sollten die Bewohner vor neugierigen Blicken schützen. Heute führen schmale Kanäle entlang der Gassen, in denen Wasser fliesst.
Nur wenige Gehminuten entfernt besuche ich das Ninja Weapon Museum, ein kleines Museum, das von einem Privatsammler betrieben wird. Auf wenigen Quadratmetern präsentiert er seine Sammlung: Schwerter, Wurfsterne, Kettensicheln und Rüstungen. Eine Kuratorin erklärt mir, wie Kanazawa einst eine Hochburg für die Ninjas war, und lässt mich sogar einen Wurfstern in die Hand nehmen.
Ein Bad zum Abschied
Die vielen Eindrücke meiner Reise verarbeite ich schliesslich in einem sogenannten Onsen, Japans heissem Quellbad. Wer sich dort entspannen will, muss die Regeln kennen: Zuerst sich gründlich waschen, komplett nackt, auf einem kleinen Hocker. Erst dann darf man ins gemeinsame Bad. Währenddessen bleibt man still.
Ich steige ins Wasser. Es ist heiss, fast an der Schmerzgrenze, doch nach wenigen Sekunden gewöhnt sich der Körper daran. Die Muskeln entspannen sich, der Geist kommt zur Ruhe. Ich schliesse die Augen und verabschiede mich mental: «Mata ne, Kanazawa», «Bis zum nächsten Mal, Kanazawa».