Schreibdienst Opfikon: Zwischen Formularen und Lebenswegen

Daria Semenova

Seit 2017 öffnet der Schreibdienst Türen, wo bürokratische Prozesse sonst ins Stocken geraten. Freiwillige helfen Formulare auszufüllen, Lebensläufe und Bewerbungen zu gestalten – und machen oft den entscheidenden Unterschied.

Im Quartierraum an der Riethofstrasse 3 herrscht reges Kommen und Gehen. Einige Kundinnen und Kunden wirken bereits vertraut mit den Freiwilligen  – ein Nicken, ein kurzes Hallo», Smalltalk und Neuigkeiten aus dem Leben. Andere sitzen still da, blättern in Papieren oder scrollen auf ihren Handys. Wer bereits beraten wurde, verlässt leise den Raum; die Schlange wird  kürzer, während neue Namen und Anliegen – meist «Bewerbung», «CV» oder «Formular» – in der Empfangsliste hinzukommen .

Drinnen ist es warm, erfüllt vom leisen Surren der Computer und dem Murmeln der Gespräche. Meist sind zwei bis drei Freiwillige aus Opfikon anwesend, bereit zu unterstützen, wo Deutschkenntnisse, Passwörter oder Amtsdeutsch zu Stolpersteinen werden.

«Es ist ein sehr niederschwelliges Angebot», sagt Jennifer Tan, Beauftragte für Quartier- und Freiwilligenarbeit der Stadt. «Man muss sich nicht anmelden, kann einfach vorbeikommen – das schätzen die Menschen.» Viele werden direkt vom RAV, der Regionalen Arbeitsvermittlung, weitergeleitet. Dort sind die Vorgaben, dass 10 realistische Bewerbungen pro Monat verschickt werden. Für viele ist das eine grosse Herausforderung: fehlende Sprachkenntnisse, geringe PC-Erfahrung oder schlicht der Neuanfang in einem fremden Land.

Hier setzt der Schreibdienst an: Bewerbungen formulieren, sprachlich korrigieren, Lebensläufe erstellen, Prämienverbilligungen beantragen, Formulare ausfüllen, Wohnungsbewerbungen und Gesuche verfassen – die Freiwilligen helfen, bürokratische Hürden zu überwinden.

Ein Angebot für alle Lebenslagen

Die Besucherinnen und Besucher sind so vielfältig wie ihre Anliegen. Viele sind Geflüchtete, andere Seniorinnen und Senioren, die spät im Berufsleben ihre Anstellung verloren haben – durch Chefwechsel, befristete Verträge oder strukturelle Veränderungen.

Susanna, Freiwillige seit der ersten Stunde, erzählt: «Wir sind keine Rechtsberatung, aber wir helfen nach bestem Wissen und Gewissen. Manche bringen schwere Geschichten mit – Fluchtrouten, traumatische Erlebnisse. Häufig skizzieren wir gemeinsam die Wege nach. Gleichzeitig gibt es viele freudige und heitere Momente.» Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr ein älterer Italiener, der mit seiner Frau zur Scheidung kam. «Ich musste ihnen erklären, dass das hier nicht geht. Solche Begegnungen bleiben mir im Gedächtnis.»

Wie der Schreibdienst seinen Platz im Quartier fand

Der Schreibdienst entstand im Herbst 2017 aus der Abteilung Gesellschaft der Stadt Opfikon. Ein Aufruf im «Stadt-Anzeiger» suchte Menschen, die andere beim Schreiben unterstützen wollten. Zunächst bei der Integrationsarbeit angesiedelt, übernahm später die Quartierarbeit die Organisation. Bald war klar, dass auch der Sozialdienst eingebunden werden musste, um die unterschiedlichen Bedürfnisse abzudecken.

Heute wird der Schreibdienst von der Stadt finanziell und räumlich unterstützt, inklusive PCs und Infrastruktur, die auch von anderen Gruppen genutzt werden. Etwa sechs aktive Freiwillige sind regelmässig im Einsatz, begleitet von Sozial- und Quartierarbeiterinnen und -arbeitern. Sie kommen aus verschiedenen Berufen – IT, Verwaltung, Sozialwesen – und bringen Erfahrung mit Bewerbungsprozessen, Formularen, Jobvermittlung und Wohnungssuche mit. Meist sind sie zwischen 40 und 50 Jahre alt; ­einige jüngere Studierende konnten nur zeitlich begrenzt mitwirken.

«Wir sind stets auf der Suche nach neuen Freiwilligen», sagt Jennifer Tan. «Wer mitmachen möchte, braucht keine spezielle Ausbildung – aber gute PC-Kenntnisse, solide Deutschkenntnisse, Erfahrung mit Bewerbungen und Formularen sowie Freude am Umgang mit Menschen.» Sprachkenntnisse in weiteren Sprachen sind ein Vorteil. Auf Wunsch erhalten Freiwillige eine Einsatzbestätigung – ein Pluspunkt für den eigenen Lebenslauf.

Alle unterzeichnen eine Einsatzvereinbarung und können zwei- bis dreimal jährlich an kostenlosen Weiterbildungen teilnehmen – zu Themen wie Datenschutz, Abläufen oder KI-Tools. Einige, die affin damit sind, nutzen KI bereits zur Strukturierung von Lebensläufen; ein bald erscheinendes Merkblatt zeigt, wie sensible Daten dabei geschützt werden. Nach der Bearbeitung werden alle Daten von den PCs gelöscht – die Unterlagen bleiben bei den Kundinnen und Kunden auf einem USB-Stick.

Zwischen Bürokratie, Begegnung und Freude

Rund zwölf bis sechzehn Personen besuchen an einem typischen Dienstagabend den Schreibdienst – viele schon vor der offiziellen Öffnung. Pro Person stehen etwa 30 Minuten zur Verfügung; bei vollständigen Lebensläufen sind oft mehrere Abende nötig. «Manche kommen über Wochen wieder», sagt Jennifer Tan. Was in lokalen Vereinen kaum positiv wäre, ist hier genau das Ziel. «Wenn Menschen nicht mehr kommen, wissen wir, sie haben einen Job gefunden – das ist das schönste Zeichen», stellt sie lachend fest.

Neben ernsten Momenten gibt es viele kleine Freuden: Lachen, Alltagserzählungen, erleichterte Gesichter, wenn ein Formular korrekt ausgefüllt ist. Gleichzeitig wird sichtbar, welche Hürden manche Menschen überwinden müssen – und wie wenig Geld ihnen zur Verfügung steht. Oft tragen sie im Portemonnaie nur das bei sich, was sie insgesamt an Geld besitzen.

Direkt helfen, lokal wirken

Susanna engagiert sich, weil sie direkt vor Ort etwas bewirken kann. «Ich kann lokal helfen – mit kleinen Dingen wie Formularen oder Lebensläufen das Leben anderer verbessern. Anders als bei Spenden spürt man die Wirkung sofort.» Für sie ist es eine Möglichkeit, etwas zurückzugeben, das für sie selbstverständlich ist. Gleichzeitig lässt sich das Engagement gut mit dem Joballtag vereinbaren: keine aufwendige Vorbereitung oder Nachbereitung, kein langer Heimweg.

Jennifer Tan ergänzt: «Die Dankbarkeit ist enorm. Oft sind es kleine Hilfen mit grosser Wirkung. Manchmal trifft man die Personen unterwegs – ein ‹Ich habe den Job!› auf der Strasse zeigt, dass wir einer Person tatsächlich helfen konnten.»

Mehr als nur Formulare

Der Schreibdienst ist ein Stück gelebte Nachbarschaft – ein Ort der Begegnung, des Vertrauens und der gegenseitigen Unterstützung.

Nach 20 Uhr werden Tische abgewischt, Computer heruntergefahren und Stühle an ihren Platz gestellt. Am nächsten Morgen übernimmt die Spielgruppe den Raum, die Kinder rennen ausgelassen umher. Die Menschen, die ihn an diesem Abend verlassen, tun dies mit etwas mehr Sicherheit – mit einem ausgefüllten Formular, einer vollständig eingereichten Bewerbung und dem Wissen, dass sie hier jederzeit wieder willkommen sind.