Theaterkritik: Die bravouröse Wiederauferstehung

Lorenz Steinmann

Das lange Warten hat sich gelohnt. Das Opfiker Dingulari-Theaterensemble überzeugt mit der Komödie „Nöd ganz 100“ auf ganzer Linie. Das Stück rund um die offene Wohngruppe der Psychiatrie Opfikon sorgt für viele Lacher. Und das, ohne gemein gegenüber psychisch Kranken zu werden.

Wenn der Saal eine Viertelstunde vor Theaterbeginn schon voll ist, dann muss sich Grosses anbahnen. Die Stimmung: Eine Mischung aus Vorfreude und vielleicht einer Prise Skepsis. Denn das Schild beim Eingang „Offene Wohngruppe der Psychiatrie Opfikon“ verheisst nicht nur Gutes. Der Titel des Theaterstücks „Nöd ganz hundert“ lässt einen erahnen, wie es in einer Klapse, also in einer psychiatrischen Anstalt, aussehen könnte. Die lustige Variante vom Filmklassiker „Einer flog übers Kuckucksnest“ vielleicht? Oder voll auf die Patientinnen und Patienten, Schenkelklopfer auf Kosten anderer? Das kennt man zur Genüge, auch, seit sich US-Präsident Donald Trump öffentlich lustig gemacht hat über Behinderte. Und von Instagram-Filmchen und TikTok-Sequenzen sowieso.

Das dünne Eis beim Thema “Psychiatrie”

Wer auf der Bühne ein so schwieriges Thema aufgreift, begibt sich also auf dünnes Eis. Bekanntlich ist Ironie sehr oft heikel und wird nicht immer verstanden. Doch ein Blick ins Programm zeigt, dass sich Regisseur Peter Locher des Risikos durchaus bewusst war bei der Vorbereitung. „Die Herausforderung war, dass die Figuren, wie bei Komödien üblich, überzeichnet daherkommen, wir uns aber nicht lustig machen über psychische Unzulänglichkeiten“, schreibt er im Vorwort unter „Gedanken der Regie“. Ein Versprechen also.

Schon fünf Minuten vor Premierenbeginn ist es mucksmäuschenstill. Und dann, das Licht gedimmt, Bühnenscheinwerfer voll an im Singsaal Mettlen. Musik! Das Stück beginnt!

Und es begeistert von der ersten Minuten an. Grob zusammengefasst spielt die Handlung in der offenen Wohngruppe einer psychiatrischen Einrichtung, wo auch die Tochter einer reichen Hotelketten-Inhaberin ihr Gebrechen heilen lassen muss. Und zwar ihre Sexsucht. Nun meldet sich ausgerechnet diese Hotelchefin und Mutter spontan für einen Besuch an – die Verwechslungskomödie nimmt ihren Lauf. Denn wie empfängt man Besuch in einer Psychiatrie, ohne dass der Besuch merkt, dass man nicht in einer Villa residiert, wie die Mutter glaubt? Kurzerhand sollen nun die Mitbewohnerinnen und -bewohner der Wohngruppe versuchen, wie ganz normale Menschen zu wirken. 

Nadine Walker betört das Publikum

Nadine Walker als sexsüchtige Charlotte hält die WG der psychisch Angeschlagenen, aber auch das ganze Ensemble, perfekt zusammen. Sie betört das Publikum und die männlichen Darsteller gleichermassen. Ihre Hoteldynastie-Mutter Cécile Adalon, dargestellt von Yvonne Bolliger, überzeugt durch ihr affektiertes Verhalten mit wunderbar eingestreuten noblen französischen Ausdrücken. Markus Knörr, der den soziophoben Willy spielt, geniesst es sichtlich, zu stottern und herrlich verklemmt aufzutreten. 

Natürlich brauchts einen Psychiater nicht nur in geschlossenen Psychiatrieabteilungen, sondern auch in der offenen Psychi-Wohngruppe Opfikon. Dani Schärli alias Dr. Dr. Schanz ist nur schon von seiner äusseren Erscheinung her prädestiniert für diese dankbare Rolle, einen leicht schusseligen Vertreter der „Götter in Weiss“ zu spielen. Fast schon Realsatire pur …

Judy Cahannes Begni ist prägend am kurzweiligen Theater-Abend. Denn sie ist Produktionsleiterin des Theaters Dingulari – und spielt selber eine Hauptrolle. Zudem singt sie herzzerreissend! Denn als Marianne ist sie ein liebeswahnsinniger Volksmusik-Fan – neudeutsch eine Stalkerin. Das macht sie hinreissend, einmal lustig überdreht, dann wieder nachdenklich mit stillen Momenten. 

Für die zwanghaft-neurotische Kontrollitis garniert mit übersteigertem Putzfimmel ist Patrick Caminada zuständig, der sehr treffend und mit viel Situationskomik einen pensionierten Steuerbeamten spielt. Hier fragt man sich lediglich, ob es im Leben jenseits des Theaters nicht recht viele ähnlich veranlagte Menschen gibt?

Und nun – zumindest von der wuchtigen Erscheinung und von der bärentiefen Stimme her – der Star des Abends. Oder besser gesagt, der Volksmusikstar Harry Hammer. Der wird nämlich von Heinz Brunner so stimmungsvoll dargestellt, wie wenn er Volksmusikstar auch im richtigen Leben wäre. Magisch!

A propos richtiges Leben. Die offene Wohngruppe Psychiatrie Opfikon ist halt doch eine geschützte Werkstatt. Denn die Firma Tupperware existiert hier noch, ist ein Beispiel für perfekte Aufbewahrungstechnik - mit Zusatzangebot an Messern für allerlei Angriffe und Drohgebärden. So agiert Monika Kopriva als durchaus erfolgreiche und wehrhafte Tupperwareverkäuferin Brigitt. Aufgedreht und impulsiv, dazwischen eine Zeitlang sediert. Einfach wunderbar schräg! 

Wohl durch Regieentscheid am doofsten, aber durchaus sehr lustig kommt Peter Späni herüber, der den Beschäftigungstherapeuten Rolf spielt. Ja, er verkörpert ihn, wie man sich einen Therapeuten und Bewegungsanimateur vorstellt. Überdreht einfühlsam und wohlwollend lobend, wie das nur Profis können. Nervig liebenswürdig und herrlich realistisch. 

„Beste Irren-WG der Welt“ – diese Einschätzung kommt von Desirée, der manisch-depressiven Künstlerin, interpretiert von Ursi Zeller-Fuchs. Sie spielt ihren Part perfekt, ja eigentlich so, wie man sich eine etwa irrflackernde Künstlerin vorstellt. Nicht nur in der Psychi.

Ferdy Fiabane hat im realen Leben ein zerfurchtes Gesicht, das von viel Erlebtem zeugt. So ist ihm die Paraderolle des Blick-Reporters Roman Stutzke auf den Leib geschrieben. Seine gesprochenen Headlines – wie richtig im Blatt mit den grossen, grellen Buchstaben. 

Alle sind sattelfest in ihrem Part

Und das Gesamtfazit des Abends im Mettlensaal? Gegen zwei Stunden beste Unterhaltung werden einem geboten. Sattelfeste Darstellerinnen und Darsteller, ein einladendes Bühnenbild und eine Handlung ohne Hänger mit einer Themeninterpretation, die nie unter die Gürtellinie geht, weder im übertragenen Sinne noch konkret. 

Und ja, das wäre die einzige Kritik: Wenn Patientin Charlotte schon als sexsüchtig angepriesen wird, warum ging sie dann dem Volksmusikstar nicht stärker an die Wäsche? Und was war mit dem Psychiater? Götter in Weiss sind doch per se eine Eroberung wert, würde man meinen. 

Noch bis zum 22. März

Doch nun genug erzählt von der Handlung. Hingehen lautet die Empfehlung des «Stadt-Anzeigers». Denn das Dingulari-Ensemble hat ihre Wiederauferstehung nach dem Erfolgsstück ARA Camp 8152 im Jahr 2018 und einer längeren, auch coronabedingten Durststrecke, bravourös gemeistert. Aufführungen gibt's noch bis zum 22. März. 

Theaterdetails, Infos über alle mitmachenden Personen inkl. Produktionsteam, sowie Aufführungsdaten: https://dingulari.ch/
Die Aufführung von heute Samstag, 15.3. ist ausverkauft, für die übrigen Daten hats noch Karten.

P.S. Dies ist die Theaterkritik der Premiere vom 13. März für die Onlineversion des «Stadt-Anzeigers». In der Print-Ausgabe vom 27. März 2025 folgt dann eine ausführliche Würdigung der Aufführungen mit mehr Fotos, O-Tönen und Hintergrundinfos.