«Das Altgedächtnis bleibt am längsten»

Tobias Stepinski

Demenz ist die Volkskrankheit der Schweiz. Doch was bedeutet es, wenn Vergessen Teil des Lebens wird? In der Memory Clinic Glattbrugg spricht die Chefärztin ad interim Jeannette Werner über frühe Anzeichen, den Alltag mit Betroffenen und darüber, wie weit die Forschung ist.

Wer kommt zu Ihnen in die Memory ­Clinic nach Glattbrugg?

Jeannette Werner: Wir sind auf ältere Menschen spezialisiert, die Veränderungen im Gedächtnis, in der Orientierung oder im Verhalten bemerken. Unsere Altersgrenze liegt grundsätzlich bei 65 Jahren, weil ab dann Themen des Älterwerdens – Pensionierung, neue Lebensphase, Zukunftsfragen – stärker ins Gewicht fallen. Das ist aber keine starre Grenze: Wenn jemand früher alterpsychiatrische Probleme hat, vielleicht mit Mitte oder Ende 50, sehen wir die Person selbstverständlich ebenfalls gerne.

Wann ist Vergesslichkeit noch normal und wann wird sie zum Warnsignal?

Nicht jede Vergesslichkeit ist eine Demenz. Mit dem Alter vergesslicher zu ­werden, ist normal. Abklären sollte man, wenn ein Leidensdruck bei der betroffenen Person selbst entsteht. Oder die An­gehörigen bemerken deutliche Veränderungen. Wichtig ist zu wissen, dass auch andere Ursachen infrage kommen: Depression, Schlafprobleme, Schilddrüsenerkrankungen oder Vitaminmangel etwa können ähnliche Symptome verursachen.

Was soll man tun, wenn man einen ­Verdacht hat?

Die erste Anlaufstelle ist der Hausarzt. Er kann ein Screening machen und Blutwerte kontrollieren. Wenn sich der Verdacht erhärtet, überweist er an die Memory Clinic. Wer nicht im Hausarztmodell versichert ist, kann sich grundsätzlich selbst anmelden; manchmal melden sich auch Angehörige direkt.

Wie läuft eine Abklärung bei Ihnen vor Ort konkret ab?

Der erste Schritt ist immer ein genaues Kennenlernen. Zuerst führt die Ärztin oder der Arzt ein ausführliches Gespräch mit der betroffenen Person und möglichst auch mit Angehörigen. Danach folgt eine körperliche und neurologische Untersuchung, ergänzt durch bildgebende Verfahren wie ein MRI und eine neuropsychologische Testung, was rund zweieinhalb Stunden dauert. Getestet werden Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Orientierung, Sprache und logisches Denken. Wenn nötig führen wir zusätzliche Untersuchungen durch, etwa eine Liquor-Diagnostik (Rückenmarksflüssigkeit) oder spezialisierte Hirnbildgebung.

 

«Am hilfreichsten ist es, über alte Zeiten zu sprechen. Das Altgedächtnis bleibt am längsten erhalten und über die Jugend erzählen viele noch sehr lebendig.»

 

Wie zuverlässig ist die Diagnose heute?

In der Regel lässt sich nach der Gesamtschau – also Anamnese, Untersuchung, Tests, Bildgebung und Labor – zuverlässig sagen, ob eine Demenz vorliegt und in welchem Stadium. Unsicherheiten gibt es nur in sehr frühen oder atypischen Fällen.

Wie werden Angehörige in den Prozess einbezogen?

Nach Vorliegen aller Befunde führen wir ein Abschlussgespräch, dies idealerweise mit den Angehörigen. Wir erklären die Diagnose und besprechen die nächsten Schritte: Gedächtnistraining, Tagesklinik, psychiatrische Spitex, Tagesstätte, ­Sozialdienst. Zudem verweisen wir auf Angehörigengruppen, zum Beispiel in Winterthur, und auf Angebote der Alzheimervereinigung.

Was passiert im Gehirn bei einer Demenz und welche Formen gibt es?

Die häufigste Form ist Alzheimer. Dabei ist zuerst die Hippocampus-Region betroffen. Dieser Hirnbereich ist für das Lernen und Speichern neuer Informa­tionen zuständig. Neue Dinge lassen sich kaum mehr erlernen, alte Erinnerungen bleiben dagegen lange erhalten. Daneben gibt es die frontotemporale Demenz, bei der sich vor allem das Verhalten oder die Sprache verändert, sowie die vaskuläre Demenz, die durch Durchblutungsstörungen im Gehirn entsteht und zu Konzentrationsproblemen und schneller Ermüdung führt.

Welche Faktoren erhöhen das Risiko, an Demenz zu erkranken?

Der wichtigste ist das Alter. Genetische Faktoren spielen höchstens bei sehr frühem Beginn, also vor 60, eine Rolle. Weitere Risiken sind geringe Bildung, Be­wegungsmangel, soziale Isolation oder Depressionen in der Vorgeschichte.

Warum ist Früherkennung so wichtig?

Weil man die Krankheit zwar nicht heilen, aber stabilisieren kann. Frühe Abklärung ermöglicht gezieltes Training und soziale Aktivierung. Bewegung, Musik und geistige Aktivitäten verlangsamen den Verlauf nachweislich. Einsamkeit dagegen beschleunigt ihn. Es gibt auch Medikamente wie Acetylcholinesterasehemmer, die den Verlauf bremsen können.

Und was ist mit den neuen Infusions­medikamenten, über die man viel liest?

Diese Art von Medikamenten ist in der Schweiz noch nicht zugelassen. Sie können, wenn überhaupt, in sehr frühen Stadien helfen, haben aber viele Nebenwirkungen. Nur wenige Betroffene kämen überhaupt infrage. Eine Heilung bringen sie nicht.

 

«Man kann die Krankheit zwar nicht heilen, aber stabilisieren. Frühe ­Abklärung ermöglicht gezieltes Training und soziale Aktivierung.»

 

Warum ist die Krankheit Demenz bis heute nicht heilbar?

Weil die Krankheit meist zehn bis fünfzehn Jahre vor den ersten Symptomen beginnt. Wenn sie erkannt wird, sind viele Nervenzellen bereits zerstört. Bei Alzheimer lagern sich Eiweisse im Gehirn ab, die die Kommunikation zwischen den Zellen stören. Selbst wenn man diese Ablagerungen auflösen könnte, bliebe das geschädigte Gewebe bestehen. Man kann den Verlauf verlangsamen, aber nicht rückgängig machen.

Wie erleben Sie die Menschen, die zu ­Ihnen kommen?

Sehr unterschiedlich. Manche kommen mit grosser Angst vor dem Ergebnis und Zukunftssorgen. Andere haben noch kein Krankheitsgefühl und fragen sich, warum sie überhaupt hier sind – während das Umfeld längst an Veränderungen bemerkt, dass etwas nicht stimmt.

Wie können Angehörige Betroffene erreichen, wenn das Gedächtnis nachlässt?

Am hilfreichsten ist es, über alte Zeiten zu sprechen. Das Altgedächtnis bleibt bei Alzheimer am längsten erhalten. Aktuelle Themen überfordern viele, aber über Jugend und frühere Erlebnisse erzählen sie oft sehr lebendig. Ich erinnere mich an eine Patientin, die mit ihrem Geburts­namen unterschrieb – an den Ehenamen konnte sie sich nicht mehr erinnern. Solche Momente zeigen, wie tief alte Erinnerungen verankert sind.

Sie erleben täglich Menschen, die mit einer schweren Diagnose konfrontiert sind. Wie gehen Sie persönlich damit um?

Hinter jeder Diagnose steht ein Mensch. Nicht alle leiden gleich stark. Ich erinnere mich an eine Frau, die zu mir sagte: «Ich weiss nicht mehr, wo ich in den Ferien war – aber es war ­wunderschön», und sie strahlte dabei. Ihr Wohlbefinden hing nicht an der Erinnerung. Man muss lernen, das ­eigene Wertebild nicht auf die Betroffenen zu übertragen. Für sie kann auch ein Moment ohne Erinnerung ein glücklicher sein.

Es wirkt, als würde Demenz in der ­Gesellschaft noch immer tabuisiert.

Viele Betroffene und deren Angehörige empfinden Scham, weil sie merken, dass sie nicht mehr so funktionieren wie früher. Gespräche fallen beiden Seiten schwer – und können sehr verletzend sein. Zwar hat sich in den letzten Jahren einiges verbessert, doch Demenz bleibt ein sensibles Thema, über das nach wie vor selten offen gesprochen wird.

Die Krankheit Demenz: Verbreitung, Kosten und weltweite Dimension

Weltweit leben laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) über 55 Millionen Menschen mit einer Demenzerkrankung; bis 2050 dürfte ihre Zahl auf mehr als 130 Millionen steigen. Auch in der Schweiz nimmt die Zahl der Betroffenen stetig zu. Laut der gemeinnützigen Organisation Alzheimer Schweiz leben hierzulande derzeit rund 161 100 Menschen mit einer Demenz, jedes Jahr kommen rund 34 800 neue Fälle hinzu – das entspricht statistisch einer neuen Diagnose etwa alle 15 Minuten. Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer und machen rund zwei Drittel aller Erkrankten aus. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) schätzt die volkswirtschaftlichen Gesamtkosten von Demenzerkrankungen auf rund 11,8 Milliarden Franken pro Jahr. Etwa die Hälfte dieser Summe entfällt auf Pflegeheimkosten, fast ebenso viel auf die unbezahlte Betreuung durch Angehörige. Nur ein kleiner Teil – rund 6,5 Prozent – betrifft Spitäler, Spitex, ärztliche Leistungen und Medikamente. Grundlage dieser Berechnung ist die Kostenstudie von Alzheimer Schweiz aus dem Jahr 2019, die vom BAG übernommen wurde.

Inhaltlich handelt es sich bei rund 60 bis 70 Prozent aller Fälle um Alzheimer-Demenzen, gefolgt von vaskulären Demenzen mit rund 20 Prozent sowie Mischformen und selteneren Varianten wie der frontotemporalen Demenz oder der Lewy-Body-Demenz. Ab dem 80. Lebensjahr ist etwa jede fünfte Person betroffen, und rund 5 Prozent der Erkrankten sind unter 65 Jahre alt. Etwa zwei Drittel der Betroffenen leben weiterhin zu Hause – meist betreut von Angehö­rigen, die im Durchschnitt mehr als 30 Stunden unbezahlte Pflege pro Woche leisten.

Mit Blick auf den demografischen Wandel rechnen Fachleute mit einem deutlichen Anstieg der Erkrankungen. Laut Alzheimer Schweiz könnte die Zahl der Betroffenen bis ins Jahr 2050 auf über 315 000 Menschen steigen.  

 

Zur Person

Jeannette Werner ist Oberärztin an der Memory Clinic Glattbrugg der Integrierten Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland (IPW). Nach ihrem Medizinstudium arbeitete sie zunächst im Kanton Aargau und später im Kanton St. Gallen, bevor sie zur IPW wechselte. Dort ist sie seit mehreren Jahren in der Alterspsychiatrie tätig und führt Abklärungen zu Gedächtnis- und Orientierungsstörungen durch. In die Psychiatrie sei sie eher spontan hineingerutscht, erzählt Werner – eigentlich habe sie diesen Weg gar nicht geplant. Doch entgegen ihrer Erwartungen habe sie das Fachgebiet so spannend gefunden, dass sie geblieben sei. «Ich hatte schon immer ein Herz für ältere Menschen, und die Alterspsychiatrie verbindet das Medizinische mit dem Menschlichen. Das macht meine Arbeit sehr erfüllend», sagt Werner. Derzeit arbeitet sie an ihrer Dissertation im Bereich Alterspsychiatrie.