Gedankensplitter: Wählen oder entscheiden

Friedjung Jüttner

Zwischen Wählen und Entscheiden besteht offensichtlich ein Unterschied. Sonst hätten wir nicht zwei verschiedene Wörter dafür. Mit meiner Stimmabgabe an der Urne treffe ich beispielsweise eine Wahl für eine Person, die ich gern in ein bestimmtes Amt oder Gremium berufen möchte. Dem geht aber eine Entscheidung voraus. Ich musste zwischen den verschiedenen Bewerbern oder Bewerberinnen die Person wählen, die ich bevorzuge. Und wenn sich nur eine Person anbietet, muss ich mich trotzdem entscheiden, ob ich ihr zutraue, dass sie der Aufgabe gewachsen ist. 
Bei einer Wahl wägen wir ganz vernunftgeleitet die Vor- oder Nachteile einer Handlung ab. Und das dank einer vorausgehenden Entscheidung. Wir sind dann sicher, das Richtige zu tun. Wenn wir beispielsweise Schuhe kaufen wollen, dann probieren wir sie an, vergleichen den Preis und wenn das alles stimmt, dann kaufen wir sie. So eine Wahl fällt uns in der Regel leicht. Sie kann sich später zwar als falsch erweisen, aber zum Zeitpunkt der Wahl war sie richtig. Was aber, wenn ich zwischen zwei Paar Schuhen wählen muss und mich nicht entscheiden kann? Beide sind gleich schick und gleich teuer. Da hilft wiederum nur eine Entscheidung.

«Wenn die Situation unentschieden ist, weil Vor- und Nachteile sich die Waage halten, hilft die Vernunft nicht weiter.»


Friedjung Jüttner, Dr. phil., Psychotherapeut


Es gibt eine psychologische Theorie, die besagt, dass wir oft ganz unbewusst wählen. Beispielsweise unsere Berufe, unsere Hobbys oder unsere Partner. Da wählen Instanzen für uns, ohne die Hilfe der Vernunft, und erstaunlich oft auch zu unserem Vorteil. Wenn ein Paar sagt, es war Liebe auf den ersten Blick, dann war das vermutlich so eine unbewusste Wahl. Meistens denken wir aber, dass wir uns dabei entschieden haben, und führen dafür auch Gründe an. Trotzdem war es keine bewusste Entscheidung.
Wenn die Situation unentschieden ist, weil Vor- und Nachteile sich die Waage halten, hilft die Vernunft nicht weiter. Man kann die Entscheidung aufschieben in der Hoffnung, dass sich das Problem von allein löst oder dass jemand uns die Entscheidung abnimmt. Ob das dann gut ist für uns? Und ist es dann eine Wahl oder eine Entscheidung, wenn ich eine der beiden Möglichkeiten vorziehe? 
Entscheiden setzt Mut und Selbstvertrauen voraus. Der Ausgang unserer Entscheidung ist ja ungewiss, wir machen unter Umständen einen Fehler. Aber ist es dann wirklich ein Fehler oder haben wir vielmehr etwas gelernt?
Entscheiden setzt nicht nur Selbstvertrauen voraus, es fördert dieses gleichzeitig. Vor allem dann, wenn die Fehlentscheidung nicht als ein persönliches Versagen verbucht wird. Das haben schon die alten Römer gewusst und gesagt: Errare humanum est. Irren ist menschlich.
Eigentlich muss ich jetzt meine Überschrift «Wählen oder entscheiden» abändern in «Wählen und entscheiden». Denn Wählen und Entscheiden sind eng miteinander verknüpft. Daraus folgt: Nicht entscheiden ist eine schlechte Wahl.