Ein Kreativzentrum für Spraykunst
Aus der ehemaligen Kläranlage zwischen Glatt und Glattpark wird langsam ein Sprayer-Paradies. Manche Wände sind bereit, andere müssen jedoch zugeschüttet werden. Doch Anfang 2025 soll eine neue Fläche für Kreative hinzukommen: ein Zug.
Die Kunst des Sprayens hat einen zweifelhaften Ruf: Lange wurde sie fast ausschliesslich als Vandalismus und Beschädigung von fremdem Eigentum angesehen. Inzwischen hat sich das geändert: Einerseits, weil die riesigen, meist sehr farbenfrohen und oft über Nacht entstandenen Werke gleichermassen überraschen und faszinieren, aber auch, weil selbst «Sprayer-Minimalisten» wie Harald Nägeli inzwischen international anerkannte Künstler sind.
Diese Kunst wollen Yassin Tair und Till Boller aus der Dunkelheit holen. Mit ihrem Projekt «Dosendealer» (siehe Box) haben sie einen Ort geschaffen, wo man legal sprayen, üben und sich mit Gleichgesinnten austauschen kann. Die Wände werden immer wieder übermalt und stehen danach für neue Werke zur Verfügung. Das Zentrum in der früheren Kläranlage der Stadt Zürich beim Glattpark soll Kunstschaffende sowie solchen, die es noch werden wollen, aber auch dem Publikum jeweils von Mittwoch bis Sonntag offenstehen. Die offizielle Eröffnung ist für kommenden Frühling geplant.
Mit Lotteriegeld und Handarbeit
Finanziert wurden die Anfänge durch die bescheidenen Vereinsbeiträge sowie durch private Mittel aus dem Vereinsnetzwerk. Derzeit verdient der Verein mit Workshops für Schulen, Gemeinden und weiteren Interessierten sowie dem Vermieten der Halle für Feste, Firmenanlässe, Workshops und andere Events etwas dazu («Stadt-Anzeiger» vom 7. Dezember 2023). Grossen Schub erhielt die Umsetzung der Pläne aber vor allem mit den 435 000 Franken aus dem «Gemeinnützigen Fonds Bildungsbereich» des Kantons Zürich, dem früheren Lotteriefonds: So wurden auch grössere Investitionen möglich.
Die augenfälligste ist derzeit das Vordach über den kreisrunden ehemaligen Klärbecken. Es schützt Künstler und Werke nicht nur vor Wind und Wetter (auf nassen Wänden hält die Farbe nicht gut), sondern enthält auch eine Beleuchtung, damit man nicht allein auf Tageslicht angewiesen ist. Aus Sicherheitsgründen erhielten die Becken zudem einen Zaun rundherum sowie zwei metallene Treppen ins Innere.
Wo immer möglich haben die beiden Initianten sowie einige der inzwischen rund 220 Mitglieder des Vereins selbst Hand angelegt – und etwa das Gebüsch vor den zukünftigen Zugängen gerodet. «Das früher geschlossene Areal soll durchgängig werden», sagt Yassin Tair und deutet auf den neuen Zugang direkt vom Glattuferweg. Weitere befinden sich beim benachbarten Spielraum Ara Glatt (wo bereits 2015 zwei Klärbecken einer neuen Nutzung zugeführt wurden) sowie Richtung Opfikerpark (bei den gelben «Calisthenics»-Sportgeräten).
Als Nächstes sind die Atelier- und Shop-Container an der Reihe. Diese sollten Ende dieses oder Anfang nächsten Jahres geliefert und auf den April 2025 ausgeschrieben werden. Es sind insgesamt 24 gebrauchte, aber winters beheizte und sommers klimatisierte Exemplare, wie sie als Schulprovisorien oder auf Baustellen gang und gäbe sind – und offenbar sehr begehrt: «Die Preisspanne nach unseren Anfragen war riesig», so sich Yassin Tair, der sich nicht erinnern kann, jemals eine so grosse Rechnung bezahlt zu haben. «Sie reichte von 120 000 bis 650 000 Franken.» Berücksichtigt haben die Initianten aber nicht einfach den günstigsten Anbieter, dessen Container aus Osteuropa in die Schweiz gekarrt worden wären. «Wir dürfen Mittel aus dem Kulturfonds einsetzen, deshalb haben wir auch besonders auf lokale Partner geachtet», so Yassin Tair. Schliesslich ist man bei der Herstellerin Condecta in Winterthur fündig geworden.
Centovallibahn im Glattpark
Eine zusätzliche Sensation folgt ebenfalls im Februar: ein Zug, den man besprayen darf. Es ist ein ausrangiertes Exemplar der Tessiner Centovallibahn. «Die Firma Stadler Rail liefert neue und nimmt die sieben alten zurück», erklärt Till Boller den Vorgang. Fünf davon gingen nach Südfrankreich, und einen werden er und Yassin Tair übernehmen und «mit Anti-Graffiti- Farbe beschichten»: Die Idee dahinter ist, dass man den Zug ohne grossen Aufwand immer wieder reinigen und neu besprayen kann. Im Innern wird die 30 Meter lange Zugkomposition neu eingerichtet, um wechselnde Läden, sogenannte Pop-up-Stores, zu beherbergen.
Nicht nutzen können die Sprayer die mehrere Meter hohen Betonwände der rechteckigen Becken. «Sie wurden gebaut, um im Wasser zu stehen», erläutert Yassin Tair. «Und nun sind sie seit Jahren praktisch im Trockenen.» Der beauftragte Ingenieur hatte Bedenken, dass die Statik der ohnehin sanierungsbedürftigen Wände darunter gelitten hat. So entschlossen sich Yassin und Till, die tiefen Schächte dazwischen aufzufüllen und den Platz nur in der Horizontalen zu nutzen, unter anderem für die erwähnten Ateliercontainer.
Doch auch dieser Plan hat seine Tücken: Weil die Stabilität nicht mehr garantiert sei, muss das Auffüllen portionenweise und immer beidseits der Wände erfolgen; logistisch eine ziemliche Herausforderung. Glücklicherweise ist die Zufahrt auch über den vorderen Teil des Kläranlagengeländes möglich, das noch heute von Entsorgung und Recycling sowie von Schutz und Rettung Zürich zum Üben genutzt wird.
Ebenfalls geplant ist ein Laden für Spraydosen-Nachschub und Zubehör sowie ein kleiner Kiosk samt Aussenbestuhlung in einem ehemaligen Nebengebäude. Bei dessen Planung stellte sich heraus, dass die ehemalige Kläranlage keine Kanalisationsanschlüsse besitzt. «Wozu auch», was Yassin im Nachhinein ganz logisch findet, «sie war ja die Endstation der Kanalisation.» Damit das, was nun hier als Abwasser anfällt, nicht einfach (und seit der Stilllegung der Ara ungeklärt) in die Glatt fliesst, musste ein neuer Anschluss zum Spielraum nebenan gebaut werden – der einst wohl dasselbe Problem hatte.
Umzugspläne nach Opfikon
Yassin Tair und Till Boller können es noch immer kaum fassen, was in den letzten 26 Monaten hier entstanden ist. «Am 2. August 2022 waren wir das erste Mal hier. Am 13. Dezember desselben Jahres haben wir den Vertrag über die Gebrauchsleihe mit der Stadt Zürich – der die Anlage nach wie vor gehört – unterschrieben.» Und nun stünden sie vor wunderschön besprayten Wänden und erwarteten die bestellten Atelier-Container und einen Zug!
«Die Stadt Opfikon war immer sehr hilfsbereit», betonen beide. Dies hat sie derart beeindruckt, dass sie inzwischen sogar hier auf Wohnungssuche sind. «Der kurze Arbeitsweg ist dabei nur ein Argument», begründet Yassin Tair die Umzugspläne der WG vom Zürcher Limmatplatz ins Glattal: «Wir möchten uns auch weiterhin hier in Opfikon einbringen – hier leben.»
Die runden Klärbecken erhielten eine Umzäunung, ein Vordach mit Beleuchtung sowie Treppen. Die Brücke (Bildmitte) blieb bestehen. Im Hintergrund die Gebläsehalle, links daneben der spätere Kiosk, und ganz links kommt der Zug hin.
Informationen zum Projekt und zum Verein: https://dosendealer.ch